Todescode
wütend bleiben, wenn Katie sich für ihre beiden Brüder einsetzte.
Damals wusste er das nicht, aber Familie war ein zerbrechliches Gebilde. Wie ein Kartenhaus. Einige Karten ließen sich zweifellos herausziehen, ohne die Stabilität zu gefährden. Wurden jedoch weitere entfernt, erzeugte das ein Zittern, und dann löste sich eine weitere Karte, dann noch zwei – und dann stürzte das Ganze ein, einfach so. Alles nur wegen eines einzigen Fehlers, wegen einer einzigen kleinen verlorenen Karte.
Aber das spielte keine Rolle mehr. Was geschehen war, war geschehen, und jetzt, im Rückblick, kam ihm all das unvermeidlich vor – gar nicht wie eine Ansammlung willkürlicher Ereignisse, sondern wie das tückische und unabwendbare Walten des Schicksals selbst. Manchmal fragte er sich, ob das mit dem Schicksal ein Trick war, ein Narkotikum, das der Verstand anbot, um Reue und Bedauern zu betäuben. Wenn etwas nicht bloß passierte, sondern passieren
musste
, konntest du schließlich nichts dafür. Das Schicksal war wie ein Schnellzug, und wer zum Teufel konnte den schon stoppen? Züge fuhren nun mal überall da hin, wo die Gleise sie hinführten. Zugegeben, damals hatte es wie ein Auto ausgesehen. Aber das stimmte nicht. In Wirklichkeit war es ein Zug gewesen.
8 Ein fader Beigeschmack
Sarah war zurück in ihr Büro gegangen, damit Alex bei Kleiner Perkins anrufen und die Besprechung absagen konnte. Der Ärmste hatte völlig fertig ausgesehen. Na, kein Wunder. Er hatte zwar nie ein Wort darüber verloren, aber wenn die Obsidian-Software wirklich so gut war, wie es schien, dann wäre Hilzoy ein extrem wichtiger Mandant für die Kanzlei gewesen. Und ihr war klar, dass es für einen Senioranwalt mit Aussicht auf eine Partnerschaft enorm wichtig war, einen so hochkarätigen Mandanten zu gewinnen.
Sie verbrachte zwei Stunden damit, den Stand der Technik in einer Patentsache zu recherchieren. Zum Glück ohne Unterbrechungen. Sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, ihre Arbeitszeit im Sechs-Minuten-Takt einzuteilen, und wenn sie sich mal länger ausschließlich einer Sache widmen konnte, fiel es ihr leichter, den Überblick zu behalten. Sie notierte sich die Zeit, die dem Mandanten in Rechnung gestellt werden konnte, und überlegte, ob sie zum Lunch gehen sollte.
Sie stand auf und stellte die Jalousielamellen schräger. Gegen Mittag stand die Sonne so, dass es im Büro zu warm wurde. Obwohl Sarah sich nie über zu viel Sonne beklagen würde.
Draußen vor ihrem Fenster war ein Fußballspiel im Gange. Der Platz hatte bis vor kurzem noch brach gelegen und war dann im Rahmen eines städtebaulichen Projekts für seine derzeitige Nutzung umgewandelt worden. Sie zog die Jalousie ein wenig höher und schaute einen Moment lang zu. Ihr Fenster war so schalldicht, dass sie von dem Spiel nichts hören konnte, aber sie sah die Spieler lachen.
Nein, sie hatte wirklich keinen Grund zu klagen. Ein Büro mit Ausblick in einer tollen Lage, geschmackvoller Einrichtung, einer Sekretärin. Die Arbeit war interessant, und sie war gut. Ihre Position ging außerdem mit einem gewissen Status einher, auch wenn sie das selbst nicht so formuliert hätte. Und natürlich verdiente sie für eine Sechsundzwanzigjährige fast schon unanständig viel Geld. Dennoch, mitunter beunruhigte sie das Gefühl, dass sie in das alles einfach irgendwie hineingestolpert war. Nur weil man in etwas gut war und gut dafür bezahlt wurde, genügte das schon als Grund, es auch zu tun?
Ihre Eltern hätten über diese Frage gelacht, und das hatten sie auch, ehe Sarah gelernt hatte, ihre Zweifel für sich zu behalten. Aber natürlich gehörten sie einer anderen Generation an. Sie hatten sich in Amerika kennengelernt, wohin sie gekommen waren, um zu studieren und richtig Englisch zu lernen, wie es damals für Söhne und Töchter von wohlhabenden Iranern üblich war. Ihr Vater war Student der Medizin und wollte Augenarzt werden. Ihre Mutter studierte Anglistik und wollte irgendwann selbst an der Uni unterrichten. Sie heirateten noch während des Studiums. Die Eltern der beiden waren froh über die Verbindung, und das junge Paar blickte einer vielversprechenden Zukunft entgegen.
Dann kam die Revolution und die Besetzung der US -Botschaft. Als schon von Krieg die Rede war, ließ Präsident Carter iranisches Vermögen auf amerikanischen Banken einfrieren. Ihre Familien zu Hause verloren alles. An Studieren war nicht mehr zu denken – sie konnten froh sein, wenn sie noch
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