Todescode
beispiellose militärische Überlegenheit verfügte. Atomwaffen mochten ausreichen, um so eine Macht in Schach zu halten, aber vielleicht waren Amerikas Feinde auch auf ein Schachmatt aus. Die Chinesen experimentierten mit Anti-Satelliten-Waffen, um Amerika die Vormachtstellung im Weltraum abzuringen. Die Russen setzten alles auf Cyber-Krieg, wobei ihr massiver DoS-Angriff auf Estland nur ein Probelauf war. Die Iraner und andere drittrangige Mächte … wer weiß? In unzähligen Garagen und Bunkern und Geheimlaboren überall auf der Welt forschten motivierte Männer nach Schwachstellen. Falls sie fündig wurden, würden sie sie ausnutzen.
Zum Glück waren Hunderte von Leuten in den Tiefen des Pentagons damit betraut, über all die Möglichkeiten nachzugrübeln, ihre Phantasie spielen zu lassen, Prognosen zu erstellen, zu überwachen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Natürlich gab es auch schon vor dem 11. September Leute, die den Auftrag hatten, sich zu überlegen, wie Amerika vor Bedrohungen geschützt werden könnte. Aber jetzt waren es weit mehr, und sie waren stärker motiviert. Das Verteidigungsministerium hatte die Eighth Air Force sogar offiziell in ein sogenanntes Cyberkommando umgewandelt, dessen Aufgabe es war, Streitkräfte für die defensive und offensive Nutzung von Internet und Computernetzwerken auszubilden und auszurüsten. Ben hoffte, dass sie ihre Arbeit machten.
Na, er jedenfalls machte seine. Und darauf war er stolz. Wenn seine Eltern noch lebten, wären sie vielleicht auch stolz.
Aber vielleicht auch nicht. Er war immer das schwarze Schaf gewesen. Er hatte eine zurückhaltende Art, eine innere Stille an sich, die seine Eltern immer leicht beunruhigt hatte und die andere Kinder mit Coolheit verwechselten. Diese Gelassenheit hatte ihn beliebt gemacht, und die Beliebtheit, die ihm mühelos zugefallen war und ihm Freunde, Mädchen und Partys einbrachte, hatte seine Zurückhaltung gewissermaßen kaschiert.
Sein Vater war Ingenieur bei IBM gewesen. Die Familie war dreimal umgezogen, als Ben klein war – zuerst nach Yorktown Heights im Staat New York, dann nach Austin, Texas, und schließlich ins kalifornische Silicon Valley, einen Steinwurf entfernt vom San-Andreas-Graben. Ben war ein Ass im Football und Ringen, und Sportskanonen hatten es immer leicht, an einer neuen Schule akzeptiert zu werden. Seine jüngere Schwester Katie hatte auch nie Probleme damit gehabt. Sie war ein hübsches Mädchen mit einem strahlenden Lächeln und einer so großen Herzlichkeit, dass man sie einfach mögen musste.
Bei Alex, dem Jüngsten der drei, war das anders. Er war das Problemkind. Sein schüchternes Auftreten legte er nur im Klassenzimmer ab, wo er auf jede Frage eine Antwort wusste und nie einen Fehler machte. Alex’ ständiges Bedürfnis, allen zu beweisen, wie gescheit er war, machte ihn zum Streber. Das wiederum provozierte unweigerlich den Schlägertyp der Klasse, und dann musste Ben ihn wieder raushauen. Der Schlägertyp hatte für gewöhnlich einen älteren Bruder, und der Bruder wiederum hatte Freunde. Meistens waren drei oder vier Prügeleien nötig, bis Ben allen klargemacht hatte, dass sein kleiner Bruder zwar ein Arschloch war, aber ihn deshalb noch lange keiner anrühren durfte.
Ben wurde einige Male vor den Direktor zitiert, weil er sich für Alex starkgemacht hatte. Seine Eltern waren entsetzt. Sie verlangten eine Erklärung, aber was hätte Ben ihnen schon sagen können? Alex, mit seiner Begabung für Naturwissenschaften und seinen tollen Noten, war der Liebling ihres Vaters, und der alte Herr hätte nicht verstanden, dass Alex es war, der den ganzen Ärger mit seiner ständigen Angeberei heraufbeschwor. Manchmal bedankte Alex sich bei Ben, wenn der sich wieder mit den Fäusten für ihn eingesetzt hatte, aber Ben wollte keinen Dank. Er wollte bloß, dass sein Bruder aufhörte, andere mit seiner besserwisserischen Art zu provozieren. Ben sagte ihm das auch, aber Alex hörte nie auf ihn. Und so ging es weiter: Ben war wütend auf Alex, die Eltern wütend auf Ben, Ben wurde daraufhin noch wütender auf Alex, und Alex, eingeschüchtert durch seinen großen Bruder, verwirrt und gekränkt über dessen Unnahbarkeit und Wut. Die Einzige, die die Wogen glätten konnte, war Katie. Sie beschwichtigte Ben und tröstete Alex und versuchte, ihren Eltern alles zu erklären. Und obwohl die Trevens einfach nicht hinnehmen wollten, dass Ben zur Lösung von Problemen Gewalt anwendete, konnte niemand lange
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