Todescode
Geld für Essen und Miete aufbrachten. Ihre Mutter jobbte als Kellnerin, ihr Vater fand eine Anstellung bei einem Optiker. Sie schufteten bis zur völligen Erschöpfung und sparten Geld, indem sie sich eine Wohnung mit einem anderen iranischen Paar teilten, das sich in einer ähnlichen Notlage befand. Irgendwann hatten sie genug beiseitegelegt, um den Optikerladen zu kaufen. Mittlerweile besaßen sie fünf Brillengeschäfte in der Bay Area und ein paar Immobilien und waren sehr stolz darauf. Als Sarah einmal zu ihrem Vater sagte, sie wolle einen Job, der ihr seelisch guttat, hatte er gelacht und gesagt: »Du Dummerchen! Was deinem Konto guttut, tut auch deiner Seele gut!«
Sie verstand seinen Standpunkt. Aber sie hatte mehr Chancen, als ihre Eltern gehabt hatten, Chancen, die sie ihr ermöglicht hatten. Wäre es nicht falsch, das nicht auszunutzen? Sollte sie nicht auf dem Fundament aufbauen, das sie für sie gelegt hatten?
Und außerdem meinte sie, hinter dem Lachen ihres Vaters eine gewisse Traurigkeit gespürt zu haben.
Sie versuchte es zu ignorieren, aber sie wurde das Gefühl einfach nicht los, dass das Leben mehr für sie bereithielt – sie musste nur dahinterkommen, was.
Und das war ihr Problem: All ihre Träume waren irgendwie undeutlich. Sie wusste nicht, was sie wollte. Sie hatte eine Sehnsucht in sich, konnte sie aber nicht benennen. Es war zermürbend, etwas so stark zu spüren und doch außerstande zu sein, es auszudrücken oder überhaupt zu erkennen. Sie fragte sich, was schlimmer war: einen Traum aufzugeben oder zu oberflächlich zu sein, um überhaupt einen zu haben?
Und dann sagte sie sich, dass sie albern war. Sie hatte übertriebene Hoffnungen, das war das Problem. Sie sollte sich einfach mit all dem Guten begnügen, das sie hatte.
Manchmal wünschte sie sich, eine Schwester zu haben, der sie sich anvertrauen könnte, oder einen Bruder. Aber es waren harte Zeiten gewesen, als sie geboren wurde. Ihre Eltern hatten nicht geglaubt, sich ein zweites Kind leisten zu können, und als es möglich gewesen wäre, war Sarah schon zehn Jahre alt, und sie wollten nicht noch einmal von vorn anfangen.
Das Einzige, was sie wirklich interessierte, war Politik. Sie las alles, was sie in die Hände bekam – Zeitungen, Zeitschriften, Bücher. Vor allem Blogs. Es gab eine Reihe ganz ausgezeichnete Blogs, und sie waren so vielfältig und spontan, dass sie ihnen mehr traute als den etablierten Medien, die doch allesamt von Konzernen kontrolliert wurden oder sich den jeweils Mächtigen an den Hals warfen oder beides. Ihr Lesehunger war eine Art Hobby, das sie sich in der Highschool zugelegt und immer leidenschaftlicher betrieben hatte, je älter sie wurde. Aber was nutzte ihr das? Sie dachte daran, wie Obamas Gegner versucht hatten, ihn zu verunglimpfen, indem sie ihn fälschlicherweise als Muslim bezeichneten. Oder wie sie in Alabama den iranisch-amerikanischen Unternehmer Alex Lafiti mit einer falschen Anschuldigung vernichtet hatten. Was würde man da von einer Amerikanerin iranischer Abstammung halten, die tatsächlich Muslimin war und sogar manche Passagen im Koran auswendig kannte? Meine Güte, ihr richtiger Vorname war Shaghayegh, das persische Wort für Mohnblume – Sarah war bloß ein Spitzname. Shaghayegh Hosseini, wählt mich … Wahrscheinlich würde sie eher in Guantánamo landen, als in ein politisches Amt gewählt werden.
Sie hatte gerade ihr Studium am Caltech begonnen, als die Flugzeuge ins Pentagon und in die Twin Towers flogen. Danach war sie von Anwerbern sämtlicher Sicherheitsbehörden angesprochen worden: FBI , NSA , CIA , dem neugegründeten Heimatschutzministerium. Alle waren auf der verzweifelten Suche nach Leuten, die die Sprachen der muslimischen Welt beherrschten, und Sarah, die fließend Farsi sprach, war anscheinend auf all ihren Computerlisten aufgetaucht. Sie fand nicht nur die Vorstellung reizvoll, zu den Leuten zu gehören, die Zugang zu streng geheimen Informationen hatten, sondern auch die Chance, den Fanatismus zu bekämpfen, der die Kultur vergiftete, aus der sie stammte.
Doch ihre Eltern waren dagegen. Sie hatten unter der iranischen Revolution und allem, was danach kam, gelitten und fürchteten eine weitere wütende Gegenreaktion. Die Hosseinis waren jetzt Amerikaner und wollten nichts tun, was die Aufmerksamkeit auf ihre Herkunft lenken könnte. Eine gute Ausbildung war in Amerika der Schlüssel zum Erfolg, hatten ihre Eltern ihr versichert. Sie hatten sich längst
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