Todescode
Musamano ein Knie unters Kreuz und biss die Zähne zusammen, presste und presste. Die Geräuschkulisse auf der Tribüne war jetzt gewaltig, nicht bloß Jubel, sondern der Lärm von unzähligen stampfenden Füßen vibrierte durch Boden und Wände, was Ben jedoch nur undeutlich mitbekam. Er meinte, eine Trillerpfeife zu hören, aber das Geräusch sagte ihm nichts, er presste einfach weiter Musamanos Schultern auf die Matte, würgte ihn, versuchte ihn zu pinnen oder zu killen, egal. Dann spürte er, wie starke Hände an ihm zogen, ihn wegzerrten, und erst da begriff er, dass er es geschafft hatte, er hatte Musamano gepinnt. Es war vorbei, er hatte gewonnen.
Er ließ los und rollte sich auf die Beine. Seine Arme zitterten. Die Zuschauer waren jetzt außer Rand und Band. Er sah zur Tribüne, und selbst seine sonst so verhaltenen Eltern waren aufgesprungen, schwenkten die geballten Fäuste in der Luft, jubelten aus vollem Hals. Alex und Katie hüpften auf und ab und schrien. Er grinste und sah Musamano an. Der Ringer kam langsam auf die Beine. Er wirkte fassungslos. Er wirkte besiegt.
Der Ringrichter packte beide am Handgelenk, ging mit ihnen in die Mitte der Matte und hob Bens Arm. Die Menge drehte wieder durch. Ben grinste übers ganze Gesicht. Er hatte es geschafft. Er hatte Musamano besiegt. Er fühlte sich wie der König der Welt.
Nach dieser spektakulären ersten Runde waren alle anderen Gegner eingeschüchtert. Er sah es in ihren Augen und in ihrer Haltung, sobald sie die Matte betraten. Er hatte Musamano gepinnt, Himmel noch mal, und obwohl er in irgendeiner Unterrichtsstunde gelernt hatte, dass die Folgerung
›wenn A B besiegen kann und B C besiegen kann, dann kann A C besiegen‹
, ein logischer Fehlschluss ist, wusste er doch, dass der Instinkt etwas anderes sagte. Und so pinnte er sich durch den Rest des Turniers. Niemand konnte ihn aufhalten.
Es waren die besten zwei Tage seines Lebens.
Und dann. Und dann. Und dann.
Er schüttelte den Gedanken ab. Zumindest seine Eltern hatten es gut versucht. Aber Alex, dieser Mistkerl, Alex sagte nie: »Ist schon gut, Ben«, oder, »Es war nicht deine Schuld, Ben«, oder, »Ich weiß, wie sehr dir die Sache an die Nieren geht, Bruder.«
Ach, zum Teufel mit ihm. Das Letzte, was Ben von ihm gehört hatte, war, dass er Jura studierte. Davor schrieb er an seiner Doktorarbeit in Informatik. All diese Titel, und was hatte er je erreicht? Er war nie ins Ausland gegangen, war praktisch kaum von zu Hause weggekommen. Inzwischen war er bestimmt ein reicher Anwalt, ein ignoranter undankbarer Yuppie, der sich nie die Hände schmutzig machte und über Soldaten nur die Nase rümpfte. Dass ihre Eltern und Katie nicht mehr lebten, hatte wenigstens
ein
Gutes: So musste er sich nicht mit Alex auseinandersetzen. Und das würde er auch in Zukunft nicht tun.
11 Geisterhaus
Alex hatte sich am Nachmittag so lange mit Obsidian beschäftigt, dass er bis kurz vor Mitternacht im Büro bleiben musste, um die Arbeit zu erledigen, die liegengeblieben war. Als er nach Hause kam, ging er gleich ins Bett, konnte aber nicht einschlafen. Er wälzte sich eine Stunde lang hin und her, ohne dass er sich auch nur ansatzweise schläfrig fühlte. Schließlich gab er auf und beschloss, ein heißes Bad zu nehmen. Manchmal half das.
Durch die Fenster fiel ein wenig Mondlicht, deshalb ließ er die Lampen aus. Er drehte den Wasserhahn auf, stieg dann in die Wanne und setzte sich vorsichtig hin. Als sein Körper in das heiße Wasser eintauchte, verzog er das Gesicht.
Er stellte das Wasser ab, und sogleich wurde es leise im Raum. Nur ein paar letzte Tropfen, die vom Hahn in die Wanne fielen, durchbrachen die Stille wie ein sterbendes Metronom.
Er spritzte ein bisschen heißes Wasser auf die Emaille hinter sich, um sie aufzuwärmen, und lehnte sich dann zurück. Er rutschte tiefer, bis sein Kinn das Wasser berührte, und schloss die Augen. Wie gut das tat, dachte er, das war genau das, was er brauchte. Einige Sekunden später hörte auch das Tropfen auf, und es wurde totenstill.
Es war eine seltsame Vorstellung, dass das hier dieselbe Wanne war, in der seine Mom sie als Kinder gebadet hatte. Manche fänden es wahrscheinlich seltsam, dass er noch immer in seinem alten Elternhaus wohnte, und sie hatten vermutlich nicht ganz unrecht. Er hatte hier in der Stadt studiert, und die einzigen anderen Adressen, die er je gehabt hatte, waren eine Reihe von Studentenheimen, was ihm im Nachhinein vorkam wie eine Pause,
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