Todescode
ein Urlaub von diesem Haus, seinem einzigen richtigen Zuhause. Manchmal dachte er, er hätte mehr Risiken eingehen sollen, mehr ausprobieren. Aber nach der Sache mit seinem Dad, und als dann auch noch seine Mutter krank wurde, was für Risiken hätte er da eingehen können? Und dass er noch immer in diesem Haus wohnte, na ja, man könnte sagen, dass er sich für die Sicherheit entschieden hatte. Aber andererseits, nach allem, was hier geschehen war, hatte es verdammt viel Mut erfordert, hier wohnen zu bleiben.
Nach Katies Beerdigung waren er und Ben wieder zur Schule gegangen. Alex konzentrierte sich aufs Lernen, Ben machte jeden Tag nach dem Unterricht noch Leichtathletik. Katies Abwesenheit war gewaltig – eine bedrückende, gleichbleibende, fast körperlich spürbare Kraft, eine Leere, die sich auf alles in ihrem Leben erstreckte. Katies Jacke, die an einem Haken in der Diele langsam Staub ansetzte. Katies Shampoo in der Dusche mit der bernsteingelben Flüssigkeit darin, die nicht weniger wurde. Katies leerer Stuhl, der sie am Esstisch anstarrte. Alex dachte, dass daher die Vorstellung von Geistern rührte: Genauso musste es sein, in einem Geisterhaus zu leben.
Bei manchen Streitereien, die Alex zwischen seinen Eltern mitbekam, ging es darum, was mit Katies Sachen geschehen sollte. Eines Tages kam er nach Hause und ihr Zimmer war leer – ein Schreibtisch, ein Stuhl, eine abgezogene Matratze auf dem Bett. Alex schloss die Tür hinter sich und sah in ihrem Schrank, ihren Schubladen nach. Alles war weg. Es war, als wäre Katie einfach … verschwunden.
Er sah sich fassungslos in dem leeren Zimmer um. Er dachte daran, wie er einmal als kleiner Junge an einer von Bens G.-I.-Joe-Figuren einen Arm abgebrochen hatte, obwohl Ben ihm ausdrücklich verboten hatte, damit zu spielen. Heulend vor Panik war er zu Katie gelaufen. Er erinnerte sich, wie sie gelächelt und ihn getröstet und ihm geholfen hatte, den Arm wieder anzukleben. Und nein, natürlich würde sie es niemandem verraten, nicht mal Mom und Dad, Indianerehrenwort. Und als Ben es dann doch bemerkte und Alex zur Rede stellte, nahm Katie die Schuld auf sich und sagte, es sei ihr passiert. Und Ben hatte die Sache einfach auf sich beruhen lassen. Alex fragte sich, ob Ben es gewusst hatte – denn wieso hätte Katie mit einem G. I. Joe spielen sollen? –, und er dachte, dass Ben vielleicht einfach nicht weiter böse sein konnte, sobald Katie sich einschaltete. Sie war wie ein Kraftfeld gegen Wut und Hass und Vorwürfe gewesen.
Er sank neben dem Bett auf die Knie, drückte das Gesicht in die nackte Matratze und schluchzte wieder und wieder Katies Namen. Wo war sie? Wie konnte sie fort sein, ohne auch nur die geringste Spur, dass sie je da gewesen war? Das war unmöglich. Er konnte es einfach nicht begreifen.
Er weinte, bis seine Kehle rau war und ihm der Rücken weh tat, bis er so erschöpft und ausgelaugt war, dass er nichts mehr empfinden konnte. Dann stand er auf und sah sich noch einmal langsam in dem Zimmer um.
Katie war fort. Und wenn so etwas mit Katie passieren konnte, die der fröhlichste und liebste und lebendigste Mensch gewesen war, den Alex je gekannt hatte, die alle gemocht und über alles gelacht und nicht einen einzigen Feind gehabt hatte, dann konnte er über das Universum bestenfalls sagen, dass es vom Zufall regiert wurde.
Aber Zufall war bloß eine logische Möglichkeit. Was Alex in seinen tiefsten Tiefen empfand, war etwas anderes. Instinktiv wusste er, dass das Universum nicht zufällig war oder gleichgültig oder irgendwie gutartig.
Das Universum war feindselig. Du konntest auf niemanden zählen. Und das würde Alex nicht vergessen.
Er lag seit gut zwanzig Minuten in der Wanne und dachte gerade, dass es reichte, dass er jetzt schlafen könnte, als er von unten ein Geräusch hörte. Es klang wie die Klappe vom Briefschlitz in der Haustür. Er war zwar nie zu Hause, wenn die Post kam, aber er kannte das Geräusch noch gut aus seiner Kindheit. Diesmal war es leiser, als er es in Erinnerung hatte –
verstohlener
? –, doch er erkannte es trotzdem.
Er setzte sich auf. Wasser rann ihm den Rücken hinab. Ach, hör auf. Kein Mensch lugte um zwei Uhr morgens durch den Briefschlitz. Er war bloß überreizt, mehr nicht, deshalb hatte er ja schließlich ein Bad genommen.
Genau. Er hatte sich verhört. Trotzdem blieb er einen Moment lang ganz still sitzen, atmete leise durch den Mund, den Kopf schief gelegt, und lauschte konzentriert.
Da war
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