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Todescode

Todescode

Titel: Todescode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Eisler
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schutzlos. Wie … leer.
    Alex fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Warum hast du sie nicht gefahren?«, fragte er. Es war das Einzige, was ihm einfiel.
    Und plötzlich war Ben nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt.
    »Ich … habe … nichts … falsch … gemacht!«, sagte er, fast schreiend.
    Alex fing wieder an zu weinen. Ben ging davon.
    Eine Weile später ertönte aus Katies Zimmer ein Alarmton. Ein ganzes Team Ärzte und Schwestern kam angerannt, und Alex’ Eltern wurden rausgeschickt. Alex traute sich nicht zu fragen, was los war. Er glaubte, es ohnehin zu wissen, und wollte nicht, dass ihm irgendjemand sagte, dass er recht hatte.
    Ben kam zurück. Sie schritten alle wortlos auf und ab.
    Alex hätte gern gehabt, dass jemand ihn so berührte, wie Ben es getan hatte, als er ihn aus dem Zimmer führte, doch irgendwie hielt sich jeder von jedem fern. Sein Vater fuhr mit den Fingern immerzu an der Wand entlang, als wäre er auf der Suche nach einem Halt. Seine Mutter hatte die Hände in den Haaren vergraben und sah aus, als würde sie sich jeden Moment ganze Büschel ausreißen. Manchmal quietschte ein Schuh auf dem Linoleum, doch ansonsten war der Korridor schrecklich still.
    Alex hatte jedes Zeitgefühl verloren. Nach einer Weile kam Dr. Rosen heraus. Als Alex sein Gesicht sah, wusste er Bescheid – noch so eine neugefundene, ungewollte Erwachsenenerkenntnis.
    »Es tut mir sehr leid«, sagte Dr. Rosen. »Wir haben wirklich alles versucht. Es tut mir leid.«
    Alex sah, wie die Anspannung in den Beinen seiner Mutter einfach so verschwand, und Ben sprang vor, um sie zu stützen. Sein Dad sagte, O Gott, nein. O gütiger Gott, nein. Dr. Rosen erzählte ihnen irgendwas von Organspende, und so leid es ihm tue, drängen zu müssen, aber Katie könne anderen Leben schenken und sie müssten sich rasch entscheiden. Alex versuchte, nicht daran zu denken, dass sie Katies Organe jetzt nehmen könnten, aber die Bilder tauchten immer wieder auf.
    Seine Eltern gingen noch einmal in das Zimmer, um sich zu verabschieden. Ben zögerte einen Moment, und Alex dachte schon, er wollte seinen kleinen Bruder vielleicht nicht allein lassen. Doch dann wandte er Alex den Rücken zu und folgte seinen Eltern hinein. Alex fragte sich, ob Ben vielleicht sauer auf ihn war, weil er das vorhin gesagt hatte. Aber wieso hatte er Katie denn nicht gefahren? Er sollte sie doch fahren, sein Dad hatte es ihm doch gesagt. Also
wieso
?
    Alex blieb draußen. Er konnte nicht wieder reingehen. Er konnte einfach nicht. Er wollte seine Schwester nicht tot sehen. Er wünschte, er wäre vorhin nicht reingegangen. Er bekam das Bild nicht aus dem Kopf.
    Alex’ Erinnerungen an den Rest der Nacht waren Gott sei Dank verschwommen. Er erinnerte sich noch, dass seine Eltern wegen Katies Organen in Streit geraten waren. Sein Vater meinte, Katie hätte es so gewollt, und wie sie sich wohl fühlen würden, wenn Katie eine Transplantation gebraucht hätte? Seine Mutter schrie, sie würde ihr kleines Mädchen nicht ausschlachten lassen. Am Ende unterschrieben sie die Formulare nicht. Alex war insgeheim erleichtert.
    In den Tagen danach stritten ihre Eltern sich noch öfter, und obwohl sie es meistens hinter der geschlossenen Schlafzimmertür taten, bekam Alex einiges mit. Bestattungsvorbereitungen. Wo Katie beerdigt werden sollte. Erneut wegen der Organe, obwohl es dafür doch bestimmt längst zu spät war. Aber vor allem ging es darum, dass Ben sie nicht gefahren hatte und ob Alex’ Vater es ihm wirklich gesagt hatte.
    Alex hatte seine Eltern noch nie so streiten hören, und es machte ihm Angst. Er fragte sich, ob sie sich vielleicht sogar scheiden lassen würden. Er hatte Freunde, deren Eltern geschieden waren, doch er hätte nie gedacht, dass auch er mal betroffen sein könnte. Seine Eltern hatten immer den Eindruck gemacht, sich zu lieben.
    Die Trauerfeier fand in der Ladera Community Church statt, die Beisetzung im Alta Mesa Memorial Park in Palo Alto. Über fünfhundert Menschen kamen zur Beerdigung – Lehrer, Nachbarn, Bens Freunde, Alex’ Freunde, die komplette Mittelstufe der Schule. Alle hatten Katie geliebt.
    Komm schon
, dachte er.
Lass gut sein. Konzentrier dich.
    Doch er hatte Mühe, sich zu konzentrieren. In Wahrheit erloschen schlechte Erinnerungen niemals. Nein, sie hielten sich allenfalls ruhig, warteten auf geeignete Umstände, um dann wie ein böser Springteufel hochzuschnellen und zu sagen:
Hast du mich vermisst? Keine Sorge, ich bin

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