Todesdämmerung
Wohnung verlassen, auf die Jagd gehen...
In seiner Panik rannte er zu einem kleinen Bücherregal, zog eines der Erbauungsbändchen aus seiner Sammlung, die hundert solcher Titel umfaßte, heraus, riß eine Handvoll Seiten aus dem Buch und warf sie auf den Boden, riß noch mehr Seiten heraus und noch mehr, bis nur noch der Umschlagdeckel zurückblieb, und dann zerfetzte er auch den. Es fühlte sich gut an, etwas zu zerfetzten, zu verstümmeln. Er keuchte und schauderte wie ein Tier und packte ein anderes Buch, riß es in Stücke, warf die Überreste hinter sich, packte das nächste Buch, demolierte es, und dann noch eines und noch eines... Als er wieder zu Sinnen kam, lag er auf dem Boden und weinte leise. Zwanzig ruinierte Bücher, Tausende zerknüllter Seiten waren um ihn herum aufgehäuft. Er setzte sich auf, zog sein Taschentuch heraus, wischte sich die Augen. Ging auf die Knie, stand auf. Er zitterte jetzt nicht mehr. Die Not war vorbei.
Satan hatte verloren.
Kyle hatte der Versuchung nicht nachgegeben, und jetzt wußte er, warum Gott wollte, daß Männer wie er die Schlacht des Zwielichts kämpften. Wenn Gott Seine Armee ausschließlich aus Männern aufbaute, die nie gesündigt hatten, wie konnte Er dann wissen, daß sie imstande sein würden, allen Verlockungen des Teufels zu widerstehen? Aber indem er Männer wie mich wählt, dachte Kyle, Männer, die der Sünde gegenüber keine Widerstandskraft besitzen, in dem er uns eine zweite Chance zur Erlösung gibt, indem er uns dazu bringt, uns zu beweisen, hat Gott sich eine Armee kampfgestählter Soldaten geschaffen.
Er blickte zur Decke, sah sie aber nicht. An ihrer Stelle sah er den Himmel dahinter, blickte ins Herz des Universums. Er sagte: »Ich bin würdig. Ich bin aus der Gosse der Sünde gestiegen und habe bewiesen, daß ich nie wieder zurücksin ken werde. Wenn Du willst, daß ich mich für Dich um den Jungen kümmere, dann bin ich jetzt würdig. Gib mir den Jungen. Laß mich den Jungen haben. Laß mich.«
Er fühlte, wie die Not wieder in ihm aufwallte, der Drang zu würgen, zu reißen, zu zermalmen, aber diesmal war es eine reinere Empfindung, der saubere, weiße, heilige Wunsch, Gladiator Gottes zu sein.
Es kam ihm in den Sinn, daß Gott von ihm verlangte, ebendas zu tun, was er am allermeisten vermeiden wollte. Er wollte nicht wieder töten. Er wollte nie wieder Menschen ein Leid zufügen. Endlich war er im Begriff, ein gewisses Maß an Respekt für sich selbst zu gewinnen, endlich sah er undeutlich und doch real die Möglichkeit vor sich, eines Tages in Frieden mit dem Rest der Welt leben zu können; und jetzt wollte Gott von ihm, daß er tötete, wollte Gott, daß er seine Wut gegen ausgewählte Ziele einsetzte.
Warum? fragte er in plötzlichem stummen Leid. Warum muß ich es sein? Früher einmal war die Not für mich ein Lebenselixier, aber jetzt macht sie mir angst. Warum muß es sein, daß ich so gebraucht werde? Warum nicht auf irgendeine andere Art?
Das war etwas, was Mutter Grace >falsches Denken< nannte, und er versuchte es aus seinem Bewußtsein zu tilgen. Man lehnte sich nicht so gegen Gott auf, man nahm einfach hin, was er wollte. Gott war geheimnisvoll. Manchmal war Er hart und schroff, und man konnte nicht verstehen, weshalb Er so viel von einem forderte. Etwa warum Er wollte, daß man tötete... Oder warum Er einen überhaupt zu einer Mißgeburt gemacht hatte, wo Er einen doch ebensogut auch zu einem ganz normalen, gutaussehenden Menschen hätte machen können.
Nein, das war wieder falsches Denken.
Kyle sammelte die Überreste der zerfetzten Bücher auf. Er goß sich ein Glas Milch ein. Er setzte sich ans Telefon. Er wartete darauf, daß Grace ihn anrief und ihm sagte, daß die Zeit für ihn gekommen war, der Hammer Gottes zu sein.
Teil 4 - DIE JAGD
Alles, was täuscht, verzaubert auch. Plato
Es gibt keine Flucht aus den Armen des Todes, auch wenn du zuläßt, daß er dich jagt.
Die Hunde des Todes genießen die Jagd.
Sieh doch wie jeder Hund grinst
Doch die Jagd kann nicht dauern; die Hunde müssen fressen.
Sie wird vorübergehen in erschreckender Hast.
Das Buch der gezählten Sorgen
41
In Ventura ließen sie den gelben Cadillac stehen. Sie suchten in einer anderen Wohngegend, bis Charlie einen dunkelblauen Ford fand, dessen Besitzer so unklug gewesen war, die Schlüssel im Zündschloß steckenzulassen. Er fuhr den Ford nur ein paar Kilometer, bis er einen schwachbeleuchteten Parkplatz hinter einem Kino fand, wo er
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