Todesdämmerung
die wahrscheinlichere und beängstigende Möglichkeit abgewogen werden, daß Joey sich verletzen könnte. Sie hatte die Waffe entladen, hatte das leere Magazin in eine Schublade gelegt, die Waffe separat unter den Pullovern vergraben und sie glücklicherweise nie gebraucht.
Bis jetzt.
Das schrille Klingeln des Telefons wurde von Sekunde zu Sekunde lauter und eindringlicher.
Mit der Pistole in der Hand, ging Christine an den Schrank und fand das leere Magazin. Sie ging zu ihrem Kleiderschrank, wo sie auf dem obersten Regalbrett ganz hinten eine Schachtel mit Munition verwahrt hatte. Mit zitternden, ungeschickten Fingern schob sie Patronen ins Magazin, bis es voll war, und stieß es dann in den Kolben der Waffe.
Joey beobachtete sie mit faszinierten, geweiteten Augen.
Endlich hörte das Telefon zu klingeln auf.
Die plötzliche Stille traf Christine wie ein Schlag. Sie machte sie einen Augenblick lang benommen.
Joey fand als erster wieder Worte. Immer noch an seinem Daumennagel herumkauend, sagte er: »War das die Hexe?«
Es hatte keinen Sinn, es vor ihm zu verbergen, und auch keinen Sinn, ihm zu sagen, daß die alte Frau in Wirklichkeit gar keine Hexe war. »Ja. Das war sie.«
»Mami... ich hab' Angst.«
Die letzten paar Monate, seit er seine Angst vor der ima ginären weißen Schlange überwunden hatte, die ihm den Schlaf geraubt hatte, hatte er >Mama< zu ihr gesagt statt >Mami<, weil er versuchte, erwachsen zu sein. Daß er jetzt wieder >Mami< sagte, deutete darauf, wie verängstigt er war.
»Alles wird gut werden. Ich werde nicht zulassen, daß... uns beiden... etwas passiert. Wenn wir vorsichtig sind, geht alles gut.«
Sie rechnete die ganze Zeit damit, daß es an der Tür klopfte oder daß plötzlich ein Gesicht am Fenster auftauchte. Von wo aus hatte die alte Frau angerufen? Wie lange würde sie brauchen, um herzukommen, jetzt, wo die Bullen weg waren, jetzt, wo sie freie Bahn hatte?
»Was werden wir tun?« fragte er.
Sie legte die geladene Waffe auf die Kommode und holte zwei Koffer aus dem hinteren Teil des begehbaren Kleiderschrankes. »Ich werde für jeden von uns einen Koffer pakken, und dann verschwinden wir hier.«
»Wohin gehen wir denn?«
Sie warf einen der Koffer auf das Bett und klappte ihn auf. »Das weiß ich noch nicht, Süßer. Irgendwohin. Wahrschein lich in ein Hotel. Wir werden irgendwohin gehen, wo uns dieses verrückte alte Weib nicht findet, und wenn sie sich noch so anstrengt.«
»Und was dann?«
Während sie Kleidungsstücke in den offenen Koffer legte, sagte sie: »Dann werden wir jemanden finden, der uns helfen kann — uns wirklich helfen kann.«
»Nicht wie die Bullen?«
»Nicht wie die Bullen.«
»Wer denn?«
»Das weiß ich noch nicht genau. Vielleicht... ein Privatdetektiv.«
»Wie Magnum im Fernsehen?«
»Nun, vielleicht nicht genau wie Magnum«, sagte Christine.
»Wer dann sonst?«
»Wir brauchen eine große Firma, die uns Leibwächter stellen kann und alles das, während sie diese alte Frau aufspüren. Eine erstklassige Organisation.«
»Wie in diesen alten Filmen?«
»Was meinst du denn für alte Filme?«
»Du weißt schon. Wenn die wirklich ganz dreckig dran sind, dann sagen sie: >Wir werden Pinklerton einschalten^«
»Pinkerton«, korrigierte sie ihn. »Ja, so etwas wie Pinkerton. Ich kann es mir leisten, solche Leute zu beschäftigen, und genau das werde ich auch tun. Wir werden nicht ein fach dasitzen und warten, bis man uns fertigmacht, so wie die Bullen das gern möchten.«
»Ich würd' mich viel sicherer fühlen, wenn wir Magnum anheuern«, sagte Joey.
Sie hatte nicht die Zeit, dem Sechsjährigen zu erklären, daß Magnum in Wirklichkeit gar nicht existierte. So sagte sie: »Nun, vielleicht hast du recht. Vielleicht werden wir wirklich Magnum engagieren.«
»Ja?«
»Ja.«
»Der wird das gut machen«, erklärte Joey überzeugt. »Das macht er immer.«
Dann nahm Joey seinen leeren Koffer, wie sie ihn geheißen hatte, und ging in sein Zimmer. Sie folgte ihm mit dem Koffer, den sie bereits gepackt hatte — und der Pistole.
Sie entschied, nicht gleich in ein Hotel zu gehen. Sie würden auf dem schnellsten Weg zu einer Detektiv -Agentur fahren und keine Zeit vergeuden.
Ihr Mund war so trocken wie Sandpapier. Ihr Herz pochte. Ihr Atem ging hart und schnell.
Vor ihrem inneren Auge entwickelte sich eine schreckliche Vision, das Bild eines blutenden, kopflosen Körpers auf der hinteren Veranda. Aber in der Vision sah sie nicht Brandy in seinem
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