Todesdämmerung
auf den wie ein Z geformten Durchgang zu, der nach draußen führte.
Charlie sagte: »Nein!«
Sie ignorierte ihn, erreichte die erste Biegung, bog nach rechts, ohne nachzusehen, ob jemand da war, sah nur die engen Felsmauern und einen undeutlichen grauen Lichtfleck bei der nächsten Biegung, hinter der das letzte gerade Tunnelstück und dann die Öffnung der Höhle lagen. Sie rannte ohne jede Hemmung, weil das wahrscheinlich das letzte war, was Spiveys Leute von ihr erwarteten, aber auch weil sie zu langsamerer Bewegung überhaupt nicht imstande war; sie hatte beinahe die Kontrolle über sich verloren. Diese verrückten, bösartigen Schweine hatten sie aus ihrem Heim vertrieben, hatten sie zur Flucht gezwungen, hatten sie hier in ein Felsloch gedrängt, und jetzt wollten sie ihr Kind töten.
Die Männerstimme schrie erneut: »Wir wissen, daß ihr dort drinnen seid!«
Sie war noch nie in ihrem Leben hysterisch gewesen, aber jetzt war sie es und wußte es auch, konnte nichts dagegen ausrichten. Tatsächlich machte es ihr überhaupt nichts aus, daß sie hysterisch war, weil es gut war, sogar verdammt gut, einfach loszulassen, die Kontrolle über sich zu verlieren, der blinden Wut nachzugeben und einer wilden Gier, das Blut der Bestien zu vergießen, ihnen Schmerz zuzufügen und Angst einzujagen.
Mit der gleichen irrationalen Gleichgültigkeit gegenüber jeglicher Gefahr, die sie an den Tag gelegt hatte, als sie um die erste Biegung gerannt war, bog sie jetzt um die zweite, und jetzt lag vor ihr das letzte Tunnelstück und dann das Freie und eine Gestalt, die sich Silhouettenhaft im grauen Morgenlicht abzeichnete, ein Mann in einem Parka mit hochgeschlagener Kapuze. Er hielt einen Karabiner - nein, eine Maschinenpistole —, aber er hielt sie mehr oder weniger zu Boden gerichtet, nicht in den Tunnel hinein, weil er nicht damit rechnete, daß sie geradewegs auf ihn zugerannt kam und auf diese Weise eine Zielscheibe abgab, keinen Ge danken verschwendete er daran, aber genau das tat sie, wie ein verrückter Kamikaze. Sie überraschte ihn völlig, und er fing an, die Maschinenpistole zu heben, sie auf sie zu richten, aber sie feuerte, einmal, zweimal, dreimal, traf ihn jedesmal, weil er so nahe bei ihr war, daß es fast unmöglich war, ihn zu verfehlen.
Der erste Schuß versetzte ihm einen Ruck, schien ihn hochzuheben, der zweite Schuß schleuderte ihn nach hin ten, und der dritte fegte ihn zu Boden. Die Maschinenpistole flog aus seiner Hand, und einen Augenblick lang hatte Christine die Hoffnung, sie auffangen zu können, aber als sie den Höhleneingang erreichte und ins Freie trat, klapperte die so heißbegehrte Waffe bereits den Felshang hinunter.
Sie sah, daß es aufgehört hatte zu schneien, daß kein Wind mehr blies und daß hinter dem Mann, den sie getötet hatte, drei Leute am Hang waren. Einer von den dreien, ein unglaublich großer Mann zu ihrer Linken, duckte sich bereits, um Deckung zu suchen, reagierte auf die Schüsse, die seinen Freund getötet hatten, obwohl die Leiche gerade erst gefallen und wieder abgeprallt war und sich noch regte. Die zwei anderen Zwielichter waren nicht so schnell wie der Riese. Eine kleine untersetzte Frau stand unmittelbar vor Christine, höchstens drei oder vier Meter entfernt, ein perfektes Ziel, und Christine feuerte, ohne nachzudenken, auf sie, und auch jene Frau ging zu Boden, und ihr Gesicht explodierte wie ein angestochener Ballon voll roten Wassers.
Obwohl Christine lautlos durch den Felstunnel und aus der Höhle gerannt war, fing sie jetzt zu schreien an, völlig unkontrolliert, beschimpfte sie, brüllte so laut, daß ihre Kehle schmerzte und die Stimme ihr den Dienst versagte, schrie dann noch lauter weiter. Sie gebrauchte Worte, die sie noch nie gebraucht hatte, und war selbst von dem schokkiert, was über ihre Lippen kam, und konnte doch nicht damit aufhören, weil ihre Wut sie auf unartikulierte Laute und sinnlose Obszönitäten reduziert hatte.
Und während sie sich die Lungen herausbrüllte und sah, wie das Gesicht der Frau explodierte, wandte Christine sich dem dritten Zwielichter zu, dem zu ihrer Rechten, sechs Meter von ihr entfernt, und sah sofort, daß es Grace Spivey war.
»Du!« schrie sie, und der Anblick der Hexe schürte ihre Hysterie. »Du! Du verrücktes altes Miststück!«
Wie konnte eine Frau ihres Alters über die Kräfte verfü gen, um diese Berge zu ersteigen und den Kampf mit dem Blizzard zu bestehen? War es ihr Wahnsinn, der ihr Kraft
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