Todesdämmerung
seinen Schädel eingesunken zu sein, so als wären die Knochen und das Gewebe, das sie trugen, unter dem Gewicht von Dingen, die er gesehen hatte, zerbrochen. Ein Schüttelfrost packte ihn und steigerte sich hier und da zu so heftigem Zittern, daß er am ganzen Körper zuckte, wie in einem Epilepsieanfall.
Das Fieber hatte ihn fast völlig ausgetrocknet, und als er zu reden versuchte, klebte ihm die Zunge am Gaumen fest.
Sie half ihm, sich aufsetzen, und flößte ihm zwei weitere Tylenol mit einem Becher Wasser ein. »Besser jetzt?«
»Ein wenig«, sagte er mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war.
»Was macht der Schmerz?«
»Überall«, sagte er.
In der Meinung, er wäre verwirrt, sagte sie: »Ich meine, der Schmerz an deiner Schulter.«
»Mhm. Das... meine ich ja. Es ist nicht mehr... nur in meiner Schulter. Er fühlt sich an... als wäre er jetzt... überall... am ganzen Körper... von Kopf bis Fuß... Wie spät ist es?«
Sie sah auf die Uhr. »Du großer Gott! Halb acht. Ich muß neun Stunden geschlafen haben, ohne mich zu bewegen, und das auf diesem harten Boden.«
»Wie geht es Joey?«
»Sieh doch selbst.«
Er drehte den Kopf herum und sah zu, wie Joey gerade Chewbacca ein letztes Stück Schokolade gab.
»Sein Zustand bessert sich, denke ich«, sagte Christine.
»Gott sei Dank.«
Sie strich Charlie mit den Fingern das feuchte Haar aus der Stirn.
Als sie sich in der Berghütte geliebt hatten, als eine nie zu vor erlebte Leidenschaft sie erfaßt hatte, hatte sie in ihm den schönsten Mann gesehen, den sie je gekannt hatte. Die Konturen eines jeden Muskels, jedes Knochens an ihm hatten sie in Entzücken versetzt. Und selbst jetzt, eingefallen, blaß und schwach, schien er ihr schön. Sein Gesicht war so empfindsam, seine Augen so besorgt. Sie wollte sich neben ihn legen, ihn umarmen, ihn an sich drücken, aber sie hatte Angst, ihm dabei weh zu tun.
»Kannst du etwas essen?« fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Das solltest du aber«, sagte sie. »Du mußt wieder zu Kräften kommen.«
Er blinzelte mit wäßrigen Augen, so als würde er versuchen, wieder klar zu sehen. »Später vielleicht. Schneit es immer noch?«
»Ich war heute mo rgen noch nicht draußen.«
»Wenn das Wetter aufgeklart hat... müßt ihr sofort hier weg... ohne mich.«
»Unsinn.« ,
»Um diese Jahreszeit... könnte das Wetter nur... einen Tag lang... aufklaren... oder vielleicht sogar bloß... ein paar Stunden. Ihr müßt... das gute Wetter nutzen... aus den Bergen raus... vor dem nächsten Sturm.«
»Nicht ohne dich.«
»Kann nicht gehen«, sagte er.
»Du hast es ja gar nicht versucht.«
»Kann nicht. Kann kaum... reden.«
Selbst der Versuch, mit ihr zu sprechen, schwächte ihn. Sein Atem wurde mit jedem Wort, das er sprach, stockender.
Sein Zustand machte ihr Angst, und die Vorstellung, ihn alleine zu lassen, schien herzlos und grausam.
»Du könntest alleine nicht einmal das Feuer schüren«, protestierte sie.
»Sicher. Hilf mir... näher ans Feuer. Daß ich es erreichen kann. Und dann... mußt du Holz aufstapeln... für ein paar Tage. Ich komme schon klar.«
»Du wirst kein Essen kochen können.«
»Laß mir ein paar... Tafeln Schokolade da.«
»Das reicht nicht.«
Er sah sie finster an und schaffte es, einen Augenblick lang Kraft in seine Stimme zu legen. »Ihr müßt ohne mich gehen. Das ist die einzige Chance, verdammt. Für dich und Joey ist das das Beste... und für mich auch, weil ich... hier nicht herauskann... ohne einen Arzt.«
»Also gut«, sagte sie. »Okay.«
Er sackte zusammen. Das Reden hatte ihn erschöpft. Als er dann wieder sprach, war seine Stimme nicht nur ein Flüstern, sondern ein gequältes Flüstern, das manchmal am Ende eines Wortes völlig verschwamm. »Wenn ihr... zum See hinunter... kommt... könnt ihr... mir Hilfe schicken.«
»Nun, das ist für den Augenblick ja reine Theorie, bis ich herausgefunden habe, ob der Sturm nachgelassen hat oder nicht«, sagte sie. »Ich gehe besser nachsehen.«
Und in dem Augenblick, in dem sie sich erhob, hallte eine Männerstimme vom Höhleneingang herein: »Wir wissen, daß ihr dort drinnen seid! Ihr könnt euch vor uns nicht verstecken! Wir wissen, daß ihr da seid!«
Spiveys Bluthunde hatten sie gefunden.
70
Dem Instinkt folgend, und ohne eine Sekunde zu zögern, um darüber nachzudenken, ob das, was sie tat, vielleicht gefährlich wäre, schnappte sich Christine den geladenen Re volver und rannte quer durch die Höhle
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