Todesdämmerung
keiner Weise durch die Tatsache gemildert wurde, daß er in jedem anderen Fach die beste Zensur mitgebracht hatte. Das wäre schon schlimm genug gewesen. Aber am selben Tag war er in milder Weise vom Schulleiter dafür getadelt worden, daß er auf der Knabentoilette geraucht hatte. Es war das erste Mal, daß er eine Zigarette probiert hatte. Sie hatte ihm nicht geschmeckt, und er beabsichtigte auch nicht, wieder zu rauchen; es war lediglich ein Experiment, für einen Vierzehnjährigen keineswegs ungewöhnlich. Aber Evelyn war wütend. An jenem Abend hatte sich der Vortrag beinahe drei Stunden hingezogen, wobei Evelyn abwechselnd auf und ab ging oder den Kopf auf beide Hände gestützt am Tisch saß und schrie und weinte und bettelte und auf den Tisch schlug. »Du bist ein Giavetti, Tony, eher ein Giavetti als ein Scavello. Du könntest den Namen deines Vaters tragen, aber, weiß Gott, von meinem Blut ist mehr in dir; so muß es sein; ich könnte es einfach nicht ertragen, daß die Hälfte deines Blutes von dem armen schwachen Vincent stammt, denn wenn das stimmte, dann weiß Gott allein, was aus dir werden würde. Ich kann das nicht ertragen! Das kann ich nicht! Ich schufte Tag und Nacht, um dir jede Chance, jede Gelegenheit zu geben, und ich lasse einfach nicht zu, daß du mir ins Gesicht spuckst, und genau das ist es, in Mathematik nicht aufzupassen — das ist genauso, als würdest du mir ins Gesicht spucken!« Der Zorn wich den Tränen, und sie stand auf, griff sich eine Handvoll Kleenextücher aus der Schachtel auf dem Küchenbüffet und schneuzte sich laut. »Was nützt es mir denn, wenn ich mir um dich Sorgen mache, wenn ich mich um das kümmere, was aus dir wird? Dich kümmert das nicht. Da sind diese paar Tropfen aus dem Blut deines Vaters in dir, dieses Nichtstuers, und die paar Tropfen reichen aus, um dich zu verseuchen. Wie eine Krankheit. Die Scavello-Krankheit. Aber du bist auch ein Giavetti, und Giavettis geben sich immer mehr Mühe, arbeiten härter, lernen besser, und das ist nur recht so, es ziemt sich so, weil Gott nicht wollte, daß wir Müßiggang treiben und unser Leben vertrinken wie manche, die ich hier erwähnen könnte. Du mußt die besten Zensuren bekommen, und selbst wenn du Mathematik nicht magst, mu ßt du einfach härter arbeiten, bis du auch darin perfekt bist, weil du in dieser Welt die Mathematik brauchst und dein Vater, möge Gott ihm vergeben, sich nicht auf Zahlen verstand und ich nicht zulassen werde, daß du wie der arme schwache Vincent wirst; das macht mir angst; ich will nicht, daß mein Sohn ein Landstreicher wird, und ich fürchte, ich sehe den Landstreicher in dir — ganz wie dein Vater -, sehe Schwäche in dir. Nein, du bist auch ein Giavetti, vergiß das nicht. Giavettis tun immer ihre Bestes. Und jetzt sag mir bloß nicht, daß du schon die meiste Zeit mit Lernen verbringst, und komm mir nicht mit deinem Job am Wochenende in dem Lebensmittelladen. Arbeiten ist gut für dich. Ich habe dir diesen Job besorgt, denn zeig du mir einen Jungen in deinem Alter, der nicht nebenbei arbeitet, und ich zeige dir einen künftigen Nichtstuer. Dabei solltest du selbst mit dem Job und der Schule und dem, was du hier tust, genügend Freizeit haben, zu viel, viel zu viel. Vielleicht solltest du sogar ein oder zwei Abende in der Woche im Markt arbeiten. Wenn man sich richtig Mühe gibt, ist immer genügend Zeit da; Gott hat die ganze Welt in sechs Tagen erschaffen, und sag jetzt bloß nicht, daß du nicht Gott bist, denn wenn du im Katechismusunterricht zugehört hast, würdest du wissen, daß du als sein Ebenbild geschaffen bist, und denke daran, du bist ein Giavetti, und das bedeutet, daß du ein klein wenig mehr sein Ebenbild bist als einige andere Leute, die ich erwähnen könnte, wie Vincent Scavello, aber das werde ich nicht. Sieh mich an! Ich arbeite den ganzen Tag, aber ich koche dir auch gutes Essen und halte mit Christine dieses große Haus makellos sauber, makellos, sage ich, Gott ist mein Zeuge, und wenn ich auch manchmal müde bin und das Gefühl habe, ich könnte nicht mehr weiter, dann mache ich trotzdem weiter, für dich, für dich mach' ich weiter, und deine Kleider sind immer hübsch gebügelt, nicht wahr? Und deine Socken immer gestopft. Sag mir nur, du hättest auch nur einmal einen Socken mit einem Loch anziehen müssen! Und wenn ich all das tun und nicht tot umfallen kann und mich nicht einmal beklage, dann kannst du auch ein Sohn sein, auf den ich stolz sein kann,
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