Todesdämmerung
sagen?« fragte sie mit einer Art ruhigen Empörung, die ihn verblüffte. »Daß Sie zuerst die Moral Ihrer Klienten billigen müssen, ehe Sie einen Fall übernehmen?«
Der plötzliche Wandel in ihrem Verhalten verblüffte und verwirrte ihn zugleich, und er sah sie mit aufgerissenem Mund an. »Aber selbstverständlich nicht! Ich habe nur -«
»Ich beabsichtige nicht, hier wie ein Verbrecher beim Polizeiverhör dazusitzen.«
»Langsam, langsam. Was ist denn los? Was habe ich denn gesagt? Du lieber Gott, was interessiert es mich denn, ob Sie verheiratet waren oder nicht?«
»Sehr gut. Es freut mich, daß Sie das so sehen. So, und wie werden Sie jetzt diese alte Frau aufspüren?«
Der Zorn blieb wie ein schwelendes Feuer in ihren Augen und ihrer Stimme.
»Wirklich«, sagte er. »Mir ist das gleichgültig.«
»Großartig. Gratuliere zu Ihrer modernen Einstellung.
Wenn es bei mir läge, würden Sie den Nobelpreis bekommen. Können wir das Thema jetzt fallen lassen?«
Was, zum Teufel, war mit der Frau los? fragte er sich. Er war froh, daß es keinen Ehemann gab. Spürte sie sein Interesse für sie nicht? Konnte sie sein professionelles Gehabe nicht durchschauen? Merkte sie nicht, welchen Eindruck sie auf ihn machte? Die meisten Frauen hatten für so etwas einen sechsten Sinn.
»Wenn ich Ihnen irgendwie auf die Nerven gehe oder so etwas, kann ich den Fall einem meiner Mitarbeiter übertragen«, sagte er.
»Nein, ich —«
»Sie sind alle sehr verläßlich und tüchtig. Aber ich versichere Ihnen, ich wollte Sie in keiner Weise diffamieren oder mich über Sie lustigmachen oder was auch immer sonst Sie vielleicht glauben. Ich bin nicht wie dieser Bulle heute morgen, der Ihnen eine Gardinenpredigt gehalten hat, weil Sie Scheiße gesagt haben.«
»Officer Wilford.«
»Ich bin nicht wie Wilford. Ich bin ganz locker. Okay?
Waffenstillstand?«
Sie zögerte und nickte dann. Langsam löste sich ihre Starre. Der Zorn verflog, und an seine Stelle trat Verlegenheit.
»Tut mir leid, daß ich Sie so angefahren habe, Mr. Harrison«, sagte sie.
»Sagen Sie Charlie zu mir. Und Sie können mich jederzeit anfahren.« Er lächelte. »Aber wir müssen über Joeys Vater reden, weil er vielleicht mit der ganzen Sache in Verbindung steht.«
»Mit dieser alten Frau?«
»Vielleicht.«
»Oh, das bezweifle ich.«
»Vielleicht will er das Sorgerecht für seinen Sohn.«
»Warum kommt er dann nicht einfach zu mir und bittet mich darum?«
Charlie zuckte die Achseln. »Die Leute gehen Probleme nicht immer logisch an.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Joeys Vater ist es nicht.
Soweit mir bekannt ist, weiß er nicht einmal, daß es Joey gibt. Außerdem hat diese alte Frau gesagt, Joey müsse sterben.«
»Ich bin immer noch der Meinung, daß wir die Möglichkeit in Betracht ziehen und über seinen Vater reden müssen, selbst wenn das Ihnen unangenehm ist. Wir dürfen keine Möglichkeit unerforscht lassen.«
Sie nickte. »Es ist nur so, daß Evelyn, meine Mutter, fast zerbrochen wäre, als ich mit Joey schwanger wurde. Sie hatte so viel von mir erwartet... Sie hat mir schreckliche Schuldgefühle eingeredet, mich fast mit Schuld erstickt.«
Sie seufzte. »Vermutlich liegt es daran, daß ich immer noch
überempfindlich reagiere, wenn es um Joeys uneheliche Ge burt geht.«
»Ich verstehe.
»Nein. Sie verstehen nicht. Das können Sie gar nicht.« Er wartete und hörte zu. Er war ein guter, geduldiger Zuhörer. Das war Teil seines Berufs.
Sie sagte: »Evelyn... Mutter... mag Joey nicht sehr. Sie will nicht viel mit ihm zu tun haben. Sie nimmt es ihm übel,
daß er ein uneheliches Kind ist. Manchmal behandelt sie ihn sogar, als... als wäre er böse oder schlecht oder so etwas.
Das ist unrecht, das ist krankhaft, das gibt keinen Sinn, aber es paßt ganz genau zu meiner Mutter, ihm die Schuld zu geben, daß sich mein Leben nicht so entwickelt hat, wie sie es für mich geplant hatte.«
»Wenn sie solche Abneigung gegenüber Joey empfindet,
ist es dann möglich, daß Ihre Mutter hinter dieser Geschichte mit der alten Frau steckt?« fragte er.
Der Gedanke erschreckte sie sichtlich. Aber sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ganz sicher nicht. Das wäre nicht Evelyns Art. Sie ist direkt. Sie sagt einem, was sie denkt, selbst wenn sie weiß, daß sie einem dabei weh tut, selbst wenn sie weiß,
daß jedes Wort wie ein Nagel ist, den jemand in einen hin einschlägt. Sie würde nicht ihre Freunde auffordern, meinen Jungen zu belästigen.
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