Todesdämmerung
Das ist lächerlich.«
»Es könnte ja sein, daß sie nicht direkt in den Vorgang verwickelt ist. Aber vielleicht hat sie anderen Leuten gegenüber über Sie und Joey geredet, und vielleicht war diese alte Frau im Shoppingcenter eine von diesen Leuten. Vielleicht hat Ihre Mutter unüberlegte Dinge über den Jungen gesagt und dabei nicht erkannt, daß diese alte Frau geistesgestört war, nicht erkannt, daß die alte Frau das, was Ihre Mutter sagte, falsch auffassen, es zu wörtlich nehmen und dann tatsächlich etwas unternehmen würde.«
Christine runzelte die Stirn und sagte dann: »Vielleicht ...«
»Ich weiß, daß es weit hergeholt ist, aber es ist möglich.«
»Okay. Mhm. Ja, das könnte sein.«
»Also erzählen Sie mir etwas über Ihre Mutter.«
»Ich versichere Ihnen, sie ist ganz bestimmt nicht in die Sache verwickelt.«
»Trotzdem«, redete er ihr zu.
Sie seufzte und sagte: »Sie ist ein Drache, meine Mutter.
Sie können das nicht verstehen, und ich kann es Ihnen eigentlich auch nicht vermitteln, weil Sie mit ihr leben müß
ten, um sie wirklich zu begreifen. Sie hat mich all die Jahre unter Druck gehalten... eingeschüchtert... tyrannisiert...«
...all die Jahre.
Ihr Bewußtsein ging gegen ihren Willen auf Wanderschaft, in die Vergangenheit, und sie fühlte einen Druck auf der Brust, und Atemschwierigkeiten setzten ein, weil das vorherrschende Gefühl, das sie mit ihrer Kindheit verband, das Gefühl des Erstickens war.
Sie sah das große viktorianische Haus in Pomona, das Oma Giavetti Evelyn hinterlassen hatte, das Haus, in dem sie gelebt hatten, seit Christine ein Jahr alt gewesen war, und in dem Evelyn immer noch lebte, und die Erinnerung daran war eine drückende Last. Obwohl sie wußte, daß es ein weißes Haus mit hellgelbem Holzwerk und Giebeln war, ein Haus, das auf reizende Art kitschig war, mit vielen Fenstern, die der Sonne Zugang gewährten, sah sie es vor ih rem geistigen Auge immer im Schatten geduckt dastehen, mit kahlen Bäumen, die sich dicht an das Haus herandrängten, und darüber einen drohenden grauschwarzen Himmel. Sie konnte die Großvateruhr monoton im Flur ticken hören, ein allgegenwärtiges Geräusch, das sich in jenen Tagen immer über sie lustigmachte und sie beständig daran erinnerte, daß das Elend ihrer Kindheit sich fast bis in die Ewigkeit erstreckte und in Millionen und Abermillionen bleierner Sekünden gezählt werden würde. Und sie sah wieder die schweren Möbelstücke in jedem Zimmer, die zu dicht aneinanderstanden, und sie vermutete, daß ihre Erinnerung die tickende Uhr lauter und eindringlicher machte, als sie wirklich gewesen war, und daß in Wirklichkeit die Möbel auch nicht so groß und klobig und häßlich und finster gewe sen waren, wie sie sie in Erinnerung hatte.
Ihr Vater, Vincent Scavello, hatte jenes Haus, jenes Leben als ebenso drückend empfunden, wie es in Christines Erinnerung gewesen war, und hatte sie verlassen, als sie vier und ihr Bruder Tony elf gewesen waren. Er kam nie zurück, und sie sah ihn nie wieder. Er war ein schwacher Mann mit einem Minderwertigkeitskomplex, und Evelyn erzeugte in ihm ein Gefühl noch größerer Unzulänglichkeit, weil sie für jeden so hohe Maßstäbe setzte. Nichts, was er tat, konnte sie befriedigen. Nichts, was irgend jemand tat — ganz besonders Christine und Tony —, war auch nur halb so gut, wie Evelyn es von ihnen erwartete. Weil Vincent ihren Erwartungen nicht gerecht werden konnte, fing er zu trinken an, und das führte dazu, daß sie noch mehr an ihm herumnörgelte, und das trieb ihn schließlich aus dem Haus. Zwei Jahre später war er tot. Man könnte sagen, daß er Selbstmord begangen hatte, wenn auch nicht mit einer Waffe, nichts so Dramatischem; einfach ein Unfall unter Alkoholeinfluß. Er fuhr mit hundert Stundenkilometern gegen einen Brückenpfeiler.
Evelyn ging einen Tag, nachdem Vincent sie verlassen hatte, arbeiten, unterhielt damit nicht nur ihre Familie, sondern tat das sogar sehr gut, erfüllte ihre eigenen Maßstäbe. Das machte alles für Christine und Tony noch schwerer. »Ihr müßt das, was ihr tut, besser als alle anderen tun; und wenn ihr das nicht schafft, dann hat es gar keinen Sinn, es auch nur anzupacken«, sagte Evelyn wenigstens tausendmal.
Christine erinnerte sich ganz besonders deutlich an einen unangenehmen Abend, den sie am Küchentisch verbracht hatte, nachdem Tony eine schlechte Zensur in Mathematik nach Hause gebracht hatte, ein Mangel, der in Evelyns Augen in
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