Todesdämmerung
hassen. Sie zu hassen, dann sie zu fürchten und schließlich zu fantasie ren, daß einer von ihnen der Antichrist war, gekommen, um die Welt zu zerstören. Es ist eine verständliche, wenn auch bedauerliche Entwicklung für eine Psychose.«
Henry sagte: »Wenn ich mich richtig erinnere, haben sie eine Tochter adoptiert...«
»Die Tochter, die Grace zur psychiatrischen Behandlung einweisen ließ, als diese Zwielicht-Geschichte anfing«, fügte Charlie hinzu.
»Ja«, sagte Boo. »Grace hat ihr Kaus verkauft, alles Geld, das sie angelegt hatte, flüssig gemacht und es in diese Kirche gesteckt. Es war unvernünftig, und die Tochter hatte recht, indem sie sich darum bemühte, ihrer Mutter den Be sitz zu erhalten. Aber Grace hat die psychiatrische Untersuchung mit fliegenden Fahnen bestanden.«
»Wie?« wollte Charlie wissen.
»Nun, sie war schlau. Sie wußte, was der untersuchende Psychiater suchte, und hatte sich hinreichend unter Kontrolle, urn all die Tendenzen und Einstellungen zu verbergen, die einen Alarm ausgelöst hätten.«
»Aber sie hat ihren Besitz liquidiert, um eine Kirche zu gründen«, sagte Henry. »Der Doktor mußte doch sicherlich erkennen, daß das nicht die Handlung einer vernünftigen Person war.«
»Im Gegenteil. Unter der Voraussetzung, daß sie die Risiken ihres Tuns begriff und alle möglichen Konsequenzen überblickte — oder zumindest solange sie den Untersuchungsarzt davon überzeugen konnte, daß sie die Dinge im Griff hatte -, würde die bloße Tatsache, daß sie alles für das Werk Gottes einsetzen wollte, nicht ausreichen, um sie für unzurechnungsfähig zu erklären. Wir haben in diesem Lande Religionsfreiheit, wissen Sie? Das ist eine wichtige verfassungsmäßige Freiheit, und das Gesetz nimmt darauf in Fällen wie diesem klar Rücksicht.«
»Du mußt mir helfen, Boo«, sagte Charlie. »Sag mir, wie diese Frau denkt. Ich brauche irgendwie Zugang zu ihr. Zeige mir, wie man sie abschalten kann, wie man sie dazu bringen kann, es sich bezüglich Joey Scavello anders zu überlegen.«
»Diese Art psychopathischer Persönlichkeit ist nicht verängstigt, unsicher oder im Begriff zusammenzubrechen. Ganz im Gegenteil. Mit der Sache, an die sie glaubt, unterstützt von dem Größenwahn, der in diesem Fall höchst religiös is t, ist sie, allem gegenteiligen Anschein zum Trotz, wie ein Felsen und kann jedem Druck und jeder Belastung Widerstand leisten. Sie lebt in einer Realität, die sie sich selbst geschaffen hat; und die hat sie so gut aufgebaut, daß du wahrscheinlich keine Chance hast, diese Realität zu erschüttern oder sie dazu zu veranlassen, den Glauben an sie zu verlieren.«
»Willst du sagen, daß ich sie nicht umstimmen kann?«
»Ich würde meinen, daß das unmöglich ist.«
»Wie bringe ich sie dann dazu, Joey Scavello in Ruhe zu lassen? Sie spinnt doch; es muß doch eine Möglichkeit geben.«
»Du hörst nicht zu oder willst nicht hören, was ich dir sage. Du darfst nicht den Fehler machen anzunehmen, daß sie, bloß weil sie geistesgestört ist, leichter verletzbar ist. Diese Art Geistesgestörtheit trägt eine ganz besondere Stärke in sich, die Fähigkeit, Mißerfolge hinzunehmen und jede Art von Streß zu ertragen. Du mußt wissen, Grace hat ihre Fantasiewelt einzig und allein zu dem Zweck entwickelt, um sich vor diesen Dingen zu schützen; sie panzert sich damit gegen die Grausamkeiten und Enttäuschungen des Le bens, und es ist ein verdammt guter Panzer.«
»Willst du damit sagen, daß sie keine Schwächen hat?« fragte Charlie.
»Jeder Mensch hat Schwächen. Ich sage dir nur, daß es im Falle von Grace nicht leicht sein wird, sie zu finden. Ich muß in meiner Kartei nachsehen, in meinen Akten, eine Weile darüber nachdenken. Gib mir mindestens einen Tag Zeit.«
»Beeil dich mit dem Nachdenken«, sagte Charlie und erhob sich. »Ich habe ein paar hundert mordlustige religiöse Fanatiker im Nacken.«
Als sie an der Tür angelangt waren, sagte Boo: »Charlie, ich weiß, daß du manchmal sehr viel Vertrauen zu mir hast...«
»Ja, das ist der reinste Messiaskomplex.«
Boo ging nicht auf den Scherz ein und blieb immer noch ungewöhnlich ernst, als er meinte: »Ich möchte nur nicht, daß du dir große Hoffnungen auf das machst, was ich vielleicht herausfinde. Es kann durchaus sein, daß ich überhaupt nichts entdecke. Im Augenblick würde ich sagen, daß es wirklich nur eine Lösung gibt, eine Methode, um Grace davon abzuhalten, deine Klienten zu töten.«
»Und
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