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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis
Autoren: Bernward Schneider
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standen«, antwortete Mrs. Strauss. »Und dann das Buch über die Schiffskatastrophe eines Schiffes mit ähnlichem Namen, über das alle reden.«
    »Ach ja! Ich habe auch davon gehört! Gibt es wirklich Leute, die an einen solchen Unfug glauben?«
    »Unfug, so nennen Sie es ganz zu recht, liebe junge Lady!«, schaltete sich Mr. Strauss ein, bevor seine Gattin antworten konnte. »Ich verabscheue jede Art von Aberglauben. Es ist gut und richtig, dass wir trotz aller Unkenrufe auf der Titanic fahren. Diese Reise wird unter Beweis stellen, was von solch dummem Geschwätz zu halten ist.«
    »Dabei ist die Titanic so ein zauberhaftes Schiff«, sagte Mrs. Strauss. »Man merkt gar nicht, dass man auf dem Meer ist. Ich komme mir vor wie in einer Stadt. Die Leute, die diese Reise abgesagt haben, wissen gar nicht, was ihnen entgeht.«
    »Es ist wirklich wundervoll hier an Bord«, stimmte Gladys ihr zu. »Der Luxus bedeutet mir nichts, aber anders als die von Ihnen genannten Passagiere empfinde ich die Stimmung und Atmosphäre an Bord als sehr angenehm.«
    »Sie sprechen mir aus der Seele«, erwiderte Mr. Strauss.
    »Und auch mit dem Wetter haben wir so ein großes Glück«, sagte Mrs. Strauss. »Die See ist geradezu märchenhaft ruhig.«
    Als sie mit dem Hummer fertig war, nahm Gladys noch eines der angebotenen Desserts. Sie konnte problemlos essen, ohne jemals zuzunehmen. Sie fühlte sich wohl und zufrieden, und als sich mit einem bezaubernden Lächeln von Mr. und Mrs. Strauss verabschiedete, die ihr Abendessen beendet hatten und sich von ihren Plätzen erhoben, zeigten sich die beiden alten Herrschaften regelrecht gerührt.
    Gladys verließ den Speisesaal und wandte sich zu den Promenadendecks.
    Zwei verglaste Wandelhallen, die geschützten Blick auf das Meer gewährten, standen den Passagieren der ersten Klasse im fünften Stock und im sechsten Stock zur Verfügung. Im siebten Stock konnten die Reisenden im Freien spazieren gehen.
    Sie war noch nicht weit gewandert, als sie aus einer Lounge, die auf ihrem Weg lag, Musik vernahm. Das White-Star-Orchester spielte bekannte Melodien. Sie betrat die Lounge, setzte sich an einen kleinen Tisch und bestellte einen Kaffee, dann lehnte sie sich zurück und lauschte den Klängen der ›Barcarole‹ von Jacques Offenbach.
    Mit offenen Augen begann sie zu träumen, und als das Orchester eine Pause machte und sie sich wieder auf ihre Umgebung konzentrierte, erblickte sie gegenüber an der Bar einen Mann mittleren Alters. Sie erinnerte sich, ihn bereits im Speisesaal gesehen zu haben und dass sein gutes Aussehen ihr im Gedächtnis geblieben war. Der Mann hatte sich etwas zu trinken bestellt, und als er das Glas in der Hand hielt, warf er einen gleichmütigen Blick in ihre Richtung, sodass sie den Verdacht hegte, dass er ihretwegen hierhergekommen war. Wahrscheinlich, sagte sie sich, war er ihr sogar gefolgt.
    Sie erwiderte seinen Blick nicht minder gleichmütig und ließ ihn dann aus den Augen. Falls sie nicht sofort aufstand und hinausging, dachte sie, würde es wahrscheinlich nicht mehr lange dauern, bis er mit seinem Glas in der Hand an ihren Tisch geschlendert käme und sie unter irgendeinem Vorwand ansprechen würde. Was soll’s, dachte sie; schließlich war sie es gewohnt, dass die Männer den Kontakt zu ihr suchten, und im Allgemeinen nahm sie derlei Annäherungsversuche mit freundlicher Gelassenheit hin.
    Das Orchester war zu einer irischen Melodie übergegangen, und Gladys schloss die Augen und machte sie erst wieder auf, als die schwermütigen Klänge zu Ende waren.
    Ein Geräusch, ein Schatten, beides ließ sie aufblicken.
    »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte der Mann von der Bar.
    »Bitte!«, sagte sie und deutete auf den Stuhl.
    »Garfield ist mein Name«, sagte der Passagier. »John Garfield. Ich bin aus London. Wie ich hörte, reisen Sie allein?«
    Er war ein Mann in den Vierzigern, mit schwarzem, dichtem Haar, einem glatten Gesicht und einem kantigen ausgeprägten Kinn. Man hätte ihn hübsch nennen können, wären da nicht die schweren Lider gewesen, die sich immer wieder halb über die stechend blickenden Augen senkten.
    »Es ließ sich nicht vermeiden«, gab Gladys zurück.
    »Es ist nicht schön, wenn man allein reisen muss, nicht wahr?«, sagte Garfield, während er wahrscheinlich gerade das Gegenteil dachte. »Auch meine Gattin konnte mich nicht begleiten, oder richtiger gesagt, sie wollte es nicht. Sie hasst Seereisen. Es ist wahrscheinlich besser, dass sie
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