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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis
Autoren: Bernward Schneider
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endlosen, tiefblauen Weiten des Ozeans zu überqueren. Es war Donnerstagnachmittag, und der stolze Ozeanriese nahm Kurs auf Amerika und auf New York, wo er am Mittwochmorgen eintreffen sollte.
    Nur noch diese Überfahrt musste sie bewältigen, dachte sie voller Zuversicht. Einmal in New York angekommen, hätte sie ihre Widersacher bald vergessen, und diesen würde es umgekehrt nicht anders ergehen. Die nächsten fünf oder sechs Tage waren der gefährlichste Teil ihrer Flucht ins Unbekannte, danach konnte sie sich endlich sicher fühlen.
    Den ganzen Nachmittag dampfte die Titanic an der irischen Küste entlang. Die Sonne beschien die grünen Hügel und hob hier und da Gruppen von Landsitzen heraus, die über grauen, abweisenden Felsen lagen, die die Küste säumten. Im Kielwasser des Schiffes kreischten und tummelten sich Hunderte von Möwen. Sie stritten sich um die Essensreste, die aus den Abfallrutschen fielen, und folgten dem Schiff in der Erwartung weiteren Futters. Gladys beobachtete sie eine ganze Zeit und war erstaunt über die Leichtigkeit, mit der sie dem Schiff fast ohne Flügelbewegung folgten. Auch am Abend, als Gladys das letzte Mal an diesem Tag über Deck ging, waren die Möwen noch da, schrien und tauchten in das Kielwasser, das die Titanic hinter sich ließ.
    Pünktlich um halb sieben Uhr ertönte der Essensruf des Hornisten. Gladys wählte eine Bluse aus dunkelroter Seide und einen schwarzen Rock und begab sich zum Abendessen.
    Der Tisch des Kapitäns mit sechs Plätzen stand am vorderen Ende des Speisesaals. Das Licht aus den Kronleuchtern ließ die Knöpfe und die goldenen Rangabzeichen an der weißen Uniform von Kapitän Smith glänzen. Er war nicht nur Kapitän, sondern sah auch so aus. Mit seinem eisgrauen Haar, seinem weißen Backenbart und seiner goldbetressten Galauniform wirkte er geradezu majestätisch. Seine ganze Erscheinung strahlte Würde und Sicherheit aus.
    Gladys trat an einen Tisch in der Nähe, an dem nur ein älteres Ehepaar saß.
    »Ist es erlaubt?«
    »Aber ja, bitte sehr!« Beide Herrschaften erhoben sich, um Gladys mit Handschlag zu begrüßen. Gladys nannte ihren Namen, und ihre beiden Tischnachbarn stellten sich als Mr. und Mrs. Strauss vor.
    Der Ober kam, und Gladys entschied sich für Hummer mit Kartoffeln und Waldorfsalat.
    »Sie sind also die schöne, allein reisende Dame, von der man in den Gesellschaftsräumen heute sprach?«, sagte Mrs. Strauss. »Ich konnte es zunächst gar nicht glauben, dass Sie ohne Ihren Mann gefahren sind. Darf ich fragen, wohin Sie Ihre Reise in Amerika führen wird?«
    »Ich reise zur Hochzeit einer Freundin in New York«, gab Gladys mit apartem Augenaufschlag zurück. »Die Hochzeit konnte man nicht verschieben. Sie heiratet am Sonnabend in einer Woche.«
    »Natürlich nicht, ich verstehe Sie! Mr. Strauss und ich sind allerdings unzertrennlich. Für uns ist es gar nicht vorstellbar, dass einer von uns allein auf eine Reise ginge. In einem Fall, wie er Ihnen passiert ist, wäre der andere nicht gereist. Nicht wahr, Liebling?« Sie schob die Hand über die ihres Gatten.
    »Ganz und gar ausgeschlossen«, bestätigte der alte Herr an ihrer Seite. »Ich würde es nicht überleben, ohne dich unterwegs zu sein …«
    »Sie beide sind zu beneiden«, sagte Gladys. »Ein glückliches Paar wie Sie sollte Vorbild für andere sein. Darf ich fragen, was Sie auf die Titanic geführt hat?«
    »Wir reisen zu unserem Vergnügen«, antwortete Mr. Strauss. »Ein arbeitsreiches Leben liegt hinter uns. Wir verbringen unsere letzten Jahre damit, noch ein wenig von dieser schönen Welt zu sehen.«
    »Ich hoffe, Sie können noch viele gemeinsame Reisen unternehmen«, sagte Gladys.
    »Das wünschen wir uns wirklich sehr«, sagte Mr. Strauss.
    Der Ober brachte das bestellte Gericht, und Gladys zerteilte den Hummer.
    »Ihr Mann ist nicht der einzige Passagier, der die Reise absagen musste«, hörte sie Mrs. Strauss sagen. »Wie ich hörte, haben eine ganze Reihe von Fahrgästen ihre Fahrkarten praktisch am letzten Tag zurückgegeben. Mr. J. P. Morgan; Herr Marconi, der berühmte Vorsitzende der Marconi-Gesellschaft, und weitere bedeutende Persönlichkeiten, deren Namen mir im Moment entfallen sind.«
    »Gibt es dafür einen besonderen Grund?«, fragte Gladys und blickte wieder zu ihrer Tischgenossin.
    »Nur diese unsinnigen Gerüchte«, erwiderte Mrs. Strauss.
    »Gerüchte?« Gladys hob die Augen.
    »Dass die Sterne über Southampton bei der Abfahrt sehr ungünstig
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