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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernward Schneider
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umgebracht‹, hätte sie am liebsten gefragt, um den angeblichen Geist ihres früheren Geliebten weiter zu testen, doch das war zu gefährlich, sie durfte sich nicht selbst verraten und musste sich die Frage verkneifen. Es war ja nicht Phil, sondern es war einer ihrer Feinde, der durch dieses furchtbare Medium zu ihr sprach! In diesem Moment merkte sie, dass Madeleine ihre Hand losgelassen hatte. Einige Augenblicke später ging das Licht an.
    Madeleine stand neben der Tür und hatte es angemacht. Ihre besorgten Augen waren auf Gladys gerichtet. Offenbar hatte sie dem bösen Spiel, das die Runde mit Gladys trieb, nicht länger zusehen können. Gladys sprang von ihrem Stuhl auf, der Bann war gebrochen.
    »Was für ein Unsinn!«, rief sie, plötzlich ernüchtert.
    Es war die Gelegenheit zu gehen, dachte sie, und sofort verließ sie den Tisch und trat neben Madeleine.
    »Vielen Dank für die Einladung, aber ich habe genug.«
    »Es tut mir leid«, flüsterte Madeleine ihr zu.
    Gladys warf einen letzten zornigen Blick in Richtung der um den Tisch versammelten Gesellschaft.
    »Viel Vergnügen noch, die Herrschaften, ich gehe!« Im nächsten Moment war sie durch die Tür des Salons und hatte die spiritistische Abendgesellschaft verlassen.
     
    *
     
    Mit festen Schritten eilte sie den Gang hinunter, stieg über die Treppe nach oben und betrat das Bootsdeck. Wie ein schwarzer Abgrund tauchte das Meer vor ihr auf. Auf zwei wegstrebenden Linien zeichnete sich die Bugwelle ab, von den Positionslaternen matt beschienen. Es musste schon recht spät sein, denn es waren kaum noch Menschen an Deck, und nur gelegentlich nahm sie einen vorüberhuschenden Schatten wahr. Der kühle Wind strich über ihre nackten Schultern und verwehte ihr goldenes Haar. Sie hatte ihre Jacke in der Kabine der Astors gelassen, aber sie vermisste sie nicht; noch immer war ihr heiß. Sie kochte innerlich, während sie sich umdrehte und in Richtung Heck ging. Sie war wie wild entschlossen, sich die Zumutungen anderer Leute nicht länger gefallen zu lassen.
    Sie lehnte sich über die Brüstung, von der man über den Hintersteven hinweg auf das Brodeln des Kielwassers sah. Ein breiter Schaumstreifen zog hinter dem Schiff her, wogte auf und nieder in täuschend majestätischer Gelassenheit. In der Ferne spiegelte sich im Mondlicht die schwarze, glatte Oberfläche des Meeres.
    Phil, armer Phil, dachte sie. Diese Schufte hatten ihn der Themse zum Fraß vorgeworfen, die ein Teil des weltumspannenden Meeres war, das ihn mit einem seiner Nebenarme verschlungen hatte. War Phil noch da? Existierte seine Seele irgendwo im Universum oder ganz in der Nähe – in einer jenseitigen Welt, die für die sterblichen Menschen unsichtbar war? Nein, vielleicht konnten die Toten sie sehen, aber sie liefen gewiss nicht als Geister auf der Titanic herum und nahmen auch keinen Kontakt mit den Lebenden auf. Dieser Faussett war ein Betrüger.
    Plötzlich hörte sie ein Geräusch und drehte sich um. Für einen Moment erschien der Schatten einer dunklen Gestalt hinter ihr, der anders war als diejenigen, welche sie eben noch hatte vorüberhuschen sehen, doch im nächsten Moment war er schon wieder verschwunden, als sei er vor ihr auf der Flucht.
    Ein Anflug von Unwillen stieg in ihr auf. Hatte sich erneut jemand an ihre Fersen geheftet? Blieb sie denn auf diesem Schiff keine Minute mehr von Leuten, die ihr nachstellten, verschont? Sie warf den Kopf zurück. Sollte der Betreffende nur kommen! Sie war gerade in der rechten Stimmung, sich mit jemandem anzulegen. Sie war nicht länger gewillt, die Rolle des Opfers zu spielen, sondern wollte wissen, wer hinter ihr her war und weshalb man sie verfolgte. Sollte ihr Verfolger erneut auftauchen, würde sie ihn stellen und ihm die Maske herunterreißen, nahm sie sich vor. An Bord der Titanic war sie nicht gänzlich auf sich allein gestellt; irgendwo in der Nähe gab es auf diesem Schiff immer ein paar Menschen, die ihr beistehen könnten, sollte ihr Verfolger zudringlich oder gewalttätig werden.
    Entschlossen ging sie auf den Deckaufbau zu, hinter der die Gestalt verschwunden war, doch es war niemand mehr da. Sie umrundete den Aufbau, über dem sich der dritte Schornstein erhob, aber nirgendwo entdeckte sie den Unbekannten. Sie blieb stehen und schaute sich um. Die Einsamkeit, von der sie an diesem Ort plötzlich umgeben war, hatte etwas Unheimliches. Das Dunkel um sie herum erschien ihr mit einem Mal drohender als jemals zuvor. Die Sterne hatten

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