Todeseis
ihren Glanz verloren und blickten auf sie wie Millionen Augen eines übermächtigen Wesens. Das Meer erschien ihr nur noch als schauerliche Tiefe, über dem sie auf einer lächerlichen Holzplanke, der größten der Welt, dahinglitt. Das Rauschen des Kielwassers hörte sich an wie ein schauriger Chor von Stimmen, die in Verzweiflung aufschrien. Sie fühlte sich klein, nichtig und verloren wie ein Staubkorn in der grenzenlosen Unendlichkeit.
In diesem Moment erblickte sie ihren Verfolger. Er stand verborgen hinter dem Tauwerk, das nahe dem letzten Schornstein aufgerollt war, und sah in ihre Richtung. Sein Gesicht lag im Dunkeln, aber sie wusste instinktiv, dass er derjenige war, der sie eben beobachtet hatte, und aus dem instinktiven Wissen wurde Sicherheit, als sie sah, dass die Gestalt vor ihr zurückzuweichen begann. Es war der Kerl vom gestrigen Abend. Es reichte! Sie schritt entschlossen auf die Gestalt zu, doch mit einer raschen Bewegung, die für Gladys ganz unvermittelt kam, drehte diese sich zur Seite und war im nächsten Moment durch eine Tür vom Deck in das Treppenhaus entschwunden. Sie lief hinterher, riss die Tür auf und sah die Gestalt die Treppe hinuntereilen. »Halt, bleiben Sie stehen!«, rief sie dem Schatten nach, während sie in schnellen Sprüngen die Stufen nahm. Sie gelangte auf die tiefer gelegene Ebene, ohne dass sie den Flüchtigen eingeholt oder gesehen hätte. Sie blickte nach links und rechts in die schwach beleuchteten, teppichbelegten Korridore und nahm den nächsten Gang auf der linken Seite, von dem sie vermutete, dass auch der Unbekannte ihn genommen hatte.
Durch den langen, weißen Gang, der zu den Luxuskabinen führte, drang kein Laut. Einmal hörte sie das Geräusch einer ins Schloss fallenden Tür und drehte sich herum, aber sie war ganz allein in dem Flur. Das Gewirr der Gänge, Kabinen und Treppen, das sich über mehrere Etagen erstreckte, war ein schwer durchschaubares und kompliziertes System mit Sackgassen, Absperrungen und Schleichwegen, ein System, das weder der Kapitän noch sonst jemand von der Besatzung richtig durchschaute. Nur Mr. Andrews, der an Bord befindliche Konstrukteur der Titanic, so wurde gemunkelt, fand sich in diesem Labyrinth sicher zurecht. Es war nicht schwer, sich darin zu verirren, und auch Gladys wusste im Moment nicht so recht, wo sie war. Sie hörte das Dröhnen der Maschinen und konnte deren Vibration durch ihre Schuhe hindurch fühlen. Sie sehnte sich nach Licht und in die Nähe vertrauter Menschen und öffnete die Tür zu einem Kabinengang, von dem sie glaubte, er würde sie näher zu ihrer eigenen Kabine führen. Sie schlüpfte hindurch und gelangte in einen leeren Korridor. Da vernahm sie hinter sich etwas, das sich wie das Geräusch einer sich schließenden Tür anhörte. Sie drehte sich um. Die Tür, durch die sie eben gekommen war, hatte sich erneut geöffnet und wieder geschlossen und einem dunkel gekleideten Mann, dessen Anblick ihr einen jähen Schrecken einjagte, Einlass gewährt. Es war das Gesicht, das sie zusammenfahren ließ, denn es war finster und eigenartig starr, maskenhaft, dunkel und grinsend, ein unverkennbar böses Gesicht, sie spürte es, gerade weil sie dessen Details nicht erkannte. Sie hatte keine Zeit, entsetzt zu sein, sondern reagierte sofort, indem sie in die eingeschlagene Richtung weiterlief und aus dem Gang zu entkommen suchte. Sie war flink, aber auch ihre Sportlichkeit machte den Nachteil ihrer hochhackigen Schuhe nicht wett, und sie ahnte ihren Verfolger mehr, als dass sie ihn hinter sich hörte, als nähere er sich ihr mit geradezu katzenhaften Sprüngen. Gerade als sie um die nächste Ecke biegen wollte, hörte sie ganz nahe das Geräusch seines Atems wie den eines Tieres, sie fuhr herum und erblickte eine schwarzseidene Fratze. Eine Maske, schoss es ihr durch den Kopf, ein maskiertes Gesicht, so wie das Medium es ihr prophezeit hatte, und im Zurückweichen sah sie die Krawatte, die der Maskierte auseinandergezogen und gespannt zwischen den Händen hielt, und sie wusste, was das bedeutete.
Obwohl sie die Hände hochriss, konnte sie den Angriff des Maskierten nicht mehr abwehren. Sie wollte schreien, aber die Krawatte, die der Maskierte wie eine Schlinge über ihren Kopf geworfen hatte, hinderte sie daran, und schon spürte sie einen entsetzlichen Druck auf ihrer Kehle. Sie schlug um sich und versuchte, nach der Maske zu greifen, sie dem Unhold vom Gesicht zu reißen und das, was darunter war, bis aufs Blut
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