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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernward Schneider
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einem langen Hals, dem Kragen und Krawatte gut standen.
    »Gehen Sie nicht in den Speisesaal?«
    »Selten«, gab Carran zurück. »Meistens bestelle ich mir ein paar Kleinigkeiten und etwas Obst auf die Kabine.«
    »Das Essen ist ganz vorzüglich«, sagte sie, um ihre momentane Aufgeregtheit zu überwinden. »Man muss kein Feinschmecker sein, um es zu mögen.«
    Sein Blick war ruhig, und der grüne Schimmer seiner Augen gefiel ihr ausnehmend gut. Dieser Roger Carran war eindeutig ein Beau, so schön wie sie selbst, dachte sie, und sie spürte den heftigen Wunsch, ihn ohne Kleidung zu sehen. Seine Augen trafen auf die ihren. Sie senkte den Blick, aber nicht sofort, und daher nahm sie in Bruchteilen von Sekunden mit einem freudigen Gefühl einen lächelnden Blick des Einverständnisses zwischen ihnen beiden wahr, als wüsste er ganz genau, woran sie eben gedacht hatte.
    »Haben Sie wirklich keine Erklärung dafür, warum dieser Mensch Sie angegriffen hat?«, fragte er, als wollte er verhindern, dass zu schnell einsetzte, wovon sie beide bereits wussten, dass es unvermeidlich sein würde. »Gewiss haben Sie eine Vermutung.«
    Sie zögerte einen Moment. Seine Frage hatte einen kleinen Funken Misstrauen in ihr entzündet, und ihr kam der Gedanke, wie merkwürdig es doch war, dass dieser Roger Carran gerade in dem Moment an ihrer Seite aufgetaucht war, als sie sich in höchster Gefahr befand.
    »Es ist eine lange Geschichte«, antwortete sie.
    Er sah sie eine Weile zweifelnd an, bevor er fragte: »Möchten Sie mir diese Geschichte nicht erzählen?«
    Sie wollte es, und ihr Misstrauen schwand, ganz bewusst dachte sie nicht weiter darüber nach, warum sie sich ihm offenbaren wollte.
    »Ja, ich werde es Ihnen erzählen«, sagte sie, »aber nicht hier.«
    »Vielleicht finden wir einen Gesellschaftsraum, in dem wir uns ungestört unterhalten können«, sagte er. »Die Chancen stehen nicht schlecht. Die meisten Passagiere sind schlafen gegangen.«
    »Wir werden ganz sicher einen geeigneten Raum finden«, übernahm sie die Initiative, »kommen Sie!«
    Sie verließen den Kabinengang, stiegen eine Treppe hinauf und fanden sich kurz darauf in der fast leeren Bibliothek wieder. Nur der Bibliothekssteward, ein dünner, gebeugter Mann mit traurigem Blick, war anwesend und damit beschäftigt, Karteikarten zu sortieren. Als er Gladys erblickte, leuchteten seine Augen freudig auf, und mit einer freundlichen Geste forderte er sie beide zum Eintreten auf.
    Die Bibliothek war mit Sofas, Sesseln und verstreuten Schreibtischen und Stehpulten ausgestattet, die Regale in Mahagoni mit weißen, hölzernen Säulen, die das Deck darüber stützten. Durch die Fenster konnte Gladys die sternklare Nacht sehen, die einen klaren morgigen Tag, mit ruhigem Wetter versprach. Sie waren allein und setzten sich an den hintersten Tisch in der Nähe des Kamins.
    »Warum nehmen Sie Ihre Mahlzeiten nicht im Speisesaal ein?«, fragte Gladys.
    »Ich mag die Leute nicht, die dort verkehren«, sagte Roger Carran, »und meide deren Gesellschaft, so gut es geht.«
    Sein Gesicht war ihr zugewandt, seine Züge ernst.
    »Warum reisen Sie dann erster Klasse?«
    »Es hat berufliche Gründe.«
    »Meine Welt ist diese Gesellschaft auch nicht«, sagte sie, »aber hinter ihrem arroganten Gebaren steckt weniger, als es den Anschein hat. Die meisten Gespräche sind belanglos.«
    »Das ist es eben, was mich so stört.«
    »Man kann nicht den ganzen Tag über Tiefschürfendes sprechen«, entgegnete Gladys mit einem nachsichtigen Lächeln. »Belangloses Plaudern ist eine Kunst. Wer darin geübt ist, hat viele Vorteile.«
    »Ich höre mir kein Geschwätz an, das mir zuwider ist. Auf die gesellschaftlichen Vorteile verzichte ich gern.«
    »Seien Sie nicht so hart!«
    Zum ersten Mal, seit sie in der Bibliothek waren, lächelte er. »Entschuldigen Sie, Mrs. Appleton! Es gibt natürlich Ausnahmen – auch unter den Erste-Klasse-Passagieren«, sagte er. »Mit Ihnen unterhalte ich mich gern.«
    Was er wohl auf diesem Schiff tat, überlegte sie. Wie ein normaler Passagier erschien er ihr nicht, sie hätte allerdings nicht sagen können, warum.
    »Reisen Sie allein?«, fragte sie und schenkte ihm einen zarten Blick.
    Er nickte. »Ja! Es geht mir wie Ihnen.«
    Sie fragte nicht, woher er von ihr wusste.
    »Sind Sie in Queenstown an Bord gekommen?«, fragte sie.
    »Nein, schon in Southampton.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Sie müssen sich in den letzten Tagen verborgen gehalten haben, um meinen

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