Todeseis
sie. Eisige Luft schlug ihr ins Gesicht, die laue von vorhin war wie weggeweht. Es war empfindlich kalt geworden. Ihre nackten Arme fröstelten nicht nur, sondern die Kälte des Fahrtwindes schnitt wie mit Messern hinein. Die Temperatur musste den Gefrierpunkt erreicht haben. Es war jedoch weniger die kalte Luft, die sie hatte zusammenzucken lassen, sondern die plötzliche Erkenntnis, dass die Temperaturen in den Keller gefallen waren, weil sie das Eisfeld erreicht haben mussten, und damit verbunden war das Erkennen, dass die Titanic mit unverminderter Geschwindigkeit durch die kalte dunkle Nacht nach Westen fuhr. Deutlich spürte sie die Vibrationen der Maschinen. Noch nie hatte sie diese so stark wahrgenommen wie jetzt, und die Überlegung, dass größere Vibrationen eine höhere Geschwindigkeit bedeuteten, machte sie sicher, dass die Titanic schneller fuhr als jemals zuvor. Sie hatten also die Geschwindigkeit nochmals erhöht. Dieser Narr von einem Kapitän, dachte sie, Roger musste endlich etwas Entscheidendes dagegen tun.
Unbeirrt ging sie weiter, vorbei an den aufgehängten Booten und den Deckaufbauten, über denen die Schornsteine in den klaren Sternenhimmel ragten. Kaum ein Passagier hatte sich in die Kälte hinausgewagt, sie war praktisch allein an Deck.
Die Titanic jagte über die schwarze, spiegelglatte See dahin. Ein matter, kaum wahrnehmbarer Dunstschleier hing über dem Wasser. Die Nacht war mondlos, aber der Himmel sternenklar. Gladys hatte das Gefühl, die Sterne noch niemals heller gesehen zu haben. Sie schienen geradezu aus dem Himmel herauszuragen und glitzerten wie geschliffene Diamanten. Vom Fahrtwind abgesehen war es völlig windstill, und sie empfand diese Windstille als unheimlich, als ob es nicht richtig war, dass auf dem Atlantik völlige Windstille herrschte.
Sie erreichte die Deckaufbauten unter dem zweiten Schornstein, wo sich der Gymnastikraum befand. Auch hier war außer ihr kein Mensch. Dass sie sich irrte, bemerkte sie Augenblicke später. Plötzlich nahm sie eine Bewegung wahr und ein leises Geräusch. Sie riss den Kopf herum und versuchte dem, was sich ihr näherte, auszuweichen, aber es war zu spät. Sie wurde von hinten ergriffen, Hände schlossen sich um Hals und Kehle. Sie wollte aufschreien, doch es gelang ihr nicht. Eine kräftige Hand, die ein Tuch hielt, schob sich über Nase und Mund. Der abscheuliche Geruch einer Chemikalie war das Letzte, was sie registrierte, bevor sie den Boden unter ihren Füßen verlor.
*
In lichten Momenten nahm sie bruchstückhaft ihre Umgebung wahr, ohne dass sie begriff, was mit ihr geschah. Irgendwann registrierte sie benommen, dass sie sich nicht mehr an Deck, sondern in einer Kabine befand, und es wurde ihr zugleich bewusst, dass man sie dorthin geschleppt hatte, während sie ohnmächtig gewesen war. Als sie schließlich wieder zu vollem Bewusstsein erwachte, geschah es, weil man sie auf ihre Füße stellte, und sie bemerkte zugleich, dass über ihrem Kopf etwas mit ihren Armen und Händen geschah. Sie öffnete die Augen und sah ein Sideboard und einen Kamin, dann einen ovalen Tisch, der auf einem dicken, dunkelroten Teppich stand und von schweren Ledersesseln und einem Ledersofa umgeben war. Sie starrte auf die mit Eichenpaneelen verkleideten Wände und auf das Mobiliar im französischen Stil, auf Spiegel und Leuchten aus geschliffenem Glas, und angesichts der luxuriösen Pracht, die um sie herum herrschte, kam ihr der Gedanke, dass sie sich in einer der Luxussuiten auf dem B-Deck befand. Dann sah sie zwei Gestalten, die sie aus einiger Entfernung zu betrachten schienen, aber bevor sich ihr Blick auf deren Gesichter konzentrieren konnte, fühlte sie ihre schmerzenden Arme über dem Kopf, und als sie aufblickte, sah sie, dass sie an ihren nackten Armen aufgehängt war. Mit Entsetzen stellte sie fest, dass man sie in die Mitte der Kabine gestellt und mit einem Strick, der schmerzhaft in ihre zusammengebundenen Handgelenke schnitt, regelrecht an die Decke gebunden hatte.
Ihre Besinnung kehrte nun vollständig zurück, und das bewirkte immerhin, dass sie wieder Halt unter ihren Füßen fand, wodurch ihre Arme etwas entlastet wurden und die Schmerzen der Dehnung ein wenig abklangen. Sie trug noch immer ihr Abendkleid, aber als sie an sich herunterblickte, sah sie, dass es über ihren Brüsten aufgerissen war, als hätte man versucht, es ihr vom Körper zu zerren.
Ihr Blick konzentrierte sich auf die Gesichter der beiden Ganoven, die
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