Todesengel (Gesamtausgabe)
Feldstechern auf dem Waldfriedhof an der Olympischen Straße Posten beziehen und die vom Geheimdienst ausgeborgten Spezialisten das in den Wipfeln der Bäume rund um das Ehrengrab von Joachim Ringelnatz angebrachte Equipment ein letztes Mal auf seine Tauglichkeit überprüfen. Und sie selbst? Sie hoffte inständig, dass die Frau, mit der sie sich verabredet hatte, schlau genug war, nicht schon los zu plappern, bevor sie die Möglichkeit hatte, ihr einen bedeutungsschweren und zurzeit noch in der Vagina verborgenen Zettel zuzustecken. Auf dem Friedhof würde sie der Fremden den Kassiber nicht übergeben können, ohne dass es die Häscher bemerkten und weil die Initiative zu einem Ortswechsel nicht von ihr ausgehen durfte, musste sie der Frau durch minimale Gesten deutlich machen, dass der Kirchhof nicht der richtige Platz war, um miteinander ins Gespräch zu kommen.
Was aber, wenn nichts so war wie es schien? Wenn es sich bei der Jungfräulichen Rache nicht um eine Mörderinnenbande handelte, sondern um eine ehrenwerte Gesellschaft geschändeter Frauen, die Schicksalsgenossinnen Trost spenden wollten und sonst nichts? Oder, noch schlimmer, wenn Becker, dem sie sich, um an ihr Ziel zu kommen, widerwillig noch einmal hingegeben hatte, ein ebenso falsches Spiel mit ihr trieb wie sie mit ihm? Sie hörte im Geiste schon die Handschellen klicken und zitterte am ganzen Körper, doch dann riss sie sich zusammen, zog das nach schlafloser Nacht verschwitzte Nachthemd aus und duschte ausgiebig, um halbwegs fit zu sein, wenn sie in zweieinhalb Stunden auf dem Friedhof eintraf. Anschließend frühstückte sie ohne jeden Appetit, trank dafür aber drei Tassen starken Kaffee und öffnete dann den beiden Frauen, die sie in eine mobile Abhörstation verwandeln sollten.
Die Kolleginnen entschuldigten sich vielmals dafür, dass sie ihre Intimsphäre verletzen mussten, doch heuchelte Mirjam Verständnis und nach einer halben Stunde war auch diese Prozedur überstanden. Kurz nach halb neun stellte sie ihren Wagen in der Nähe des Friedhofs ab, schlenderte noch ein wenig auf der Olympischen Straße herum, wunderte sich darüber, dass Monate nach dem Volksentscheid immer noch Plakate mit Thesen für und wider die Offenhaltung des Flughafens Tempelhof an den Laternenmasten hingen und betrat dann die Begräbnisstätte, an deren Eingang ein Schild vor Wildschweinen warnte.
Mirjam ging ihrem Ziel auf Umwegen entgegen, stellte beim Betrachten der Grabsteine fest, dass viele prominente Berliner auf dem terrassierten Friedhofsgelände ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten, lauschte den Kohlmeisen und Rotkehlchen, die hoch über ihr zwitscherten und schritt dann gemächlich dem vereinbarten Treffpunkt entgegen. Am Grab von Ringelnatz angekommen, versuchte sie die Kameras zu orten, mit denen ihre Begegnung gefilmt werden sollte, fand aber keine und musste den Experten, die für die Verstecke verantwortlich waren, unwillkürlich Respekt zollen. Auch die Polizisten hatten sich hervorragend getarnt, waren zumindest von ihrem Standort aus nicht zu sehen, aber sie würde trotzdem alle überlisten, weil der verfluchte Patenonkel nicht ungestraft davonkommen durfte! Mirjam knöpfte ihre Jacke zu, um sich vor der vom Boden aufsteigenden Kälte zu schützen und verharrte dann regungslos am Fuße des Grabes, in dem der Schöpfer von Kuttel Daddeldu und anderen skurrilen Gestalten lag.
„Schöner Tag heute!“, flüsterte jemand hinter ihr und Mirjam drehte sich langsam um, meinte, die orientalische Schönheit schon einmal gesehen zu haben und flüsterte das vereinbarte Codewort „Sansibar!“, worauf die Frau, deren Namen Debbie mit Fatima angegeben hatte, sie wie eine alte Bekannte umarmte.
„Entschuldige bitte!“, röchelte Mirjam plötzlich, löste sich von der vermeintlichen Rachegöttin und hustete, was das Zeug hielt, fasste sich ab und zu an die Brust und hoffte, dass Fatima das Signal verstehen würde.
„Es ist kalt hier“, meinte die Deutsch-Türkin nach einer Weile, „wir sollten uns die Beine vertreten und über unsere Selbsthilfegruppe sprechen! Okay?“
Und ob Mirjam einverstanden war! Vertraulich hakte sie sich ein und Fatima führte sie schweigend zum Ausgang, wandte sich dann nach links und bald hatten sie den zu dieser Tageszeit menschenleeren Olympischen Platz vor sich, auf dem ihnen weder Gefahr von im Hinterhalt lauernden Ordnungshütern noch von irgendwelchen versteckt angebrachten Überwachungskameras drohte. Ich habe sie
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