Todesengel (Gesamtausgabe)
konnte…
48.
Die Glocken der Heiliggeistkirche läuteten den vierten Sonntag im September ein und eine Nachtigall auf dem nahen Brixplatz stimmte mit ihrem Gesang in die Lobpreisung Gottes ein, doch war Fatima, die sich in ihrem Bett hin und her wälzte, nicht nach religiöser Erbauung zumute. Seit sie wie ihre Freundinnen den Marxschen Kernsatz verinnerlicht hatte, dass es nicht darauf ankomme, die Welt zu interpretieren, sondern zu verändern und aus einer harmlosen Selbsthilfegruppe eine veritable Mörderinnenbande geworden war, hatte sie oft geglaubt, die Häscher seien ihr auf den Fersen, doch hatte sie noch nie so große Angst wie jetzt, von der Polizei geschnappt zu werden.
Sie fragte sich, woher ihr Misstrauen gegen die Frau kam, die sie in wenigen Stunden treffen würde. Lag es an Mirjams fast identischer Leidensgeschichte? An dem von ihr behaupteten Rausschmiss aus dem LKA, den sie als Motiv für ihre Rachsucht angegeben hatte? Natürlich hatte sie sich beim Chat vorsichtiger, unverfänglicher ausgedrückt, allenfalls anklingen lassen, wonach ihr der Sinn stand, aber wenn die Mitglieder der Gruppe etwas gelernt hatten, dann war es das Entschlüsseln von Codes und zumindest für Edeltraut als frisch examinierter Psychologin war klar, das der vom Chef heraus geekelten Polizistin das Internetportal der Jungfräulichen Rache wie die Himmelspforte vorkam.
Wie aber kam es, dass sie sich trotzdem vor dem Treffen mit Mirjam fürchtete? Lag es daran, dass sie, wenn sie in sich hinein hörte, das dumpfe Grollen vernahm, das sie schon immer vor unbekannten Gefahren gewarnt hatte? Sie musste an den Ausflug mit ihren Eltern zum Titisee denken. Um keinen Preis der Welt hatte sie damals mitkommen wollen und ihren Protest so auf die Spitze getrieben, dass Vater ihr den Hintern versohlte, doch dafür hatte sie den Eltern und Geschwistern wahrscheinlich das Leben gerettet. Eine Cessna hatte sich zur selben Zeit auf der Straße in den Hochschwarzwald in einen Tanklastzug gebohrt und sie wären bei planmäßiger Abfahrt mittendrin im Inferno gewesen, das die Kollision ausgelöst hatte. Zum Dank hatten die Eltern sie in den nächsten Ferien zum Vetter nach Anatolien geschickt, den sie später einmal heiraten sollte und der abgrundtiefhässliche Mann hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als sie bald nach ihrer Ankunft unter einem Vorwand in den Keller zu locken und sich an ihr zu vergehen! Wie verletzt hatte sie sich danach gefühlt! Wie entehrt und gedemütigt! Kein aufrechter Muslim würde sie je begehren, geschweige denn zur Ehefrau nehmen! Und die Eltern würden ihr auch noch die Schuld an allem geben, weil das Wort eines Mannes bei ihnen mehr galt als die hysterische Anklage eines Mädchens, das nicht hatte warten wollen, bis sie dem Vetter nach alter Tradition zugeführt wurde…
Als Letztes hörte sie vor dem Einschlafen das Schnarchen der Cousine, die bei ihr zu Besuch war und so wunderte sie sich nicht darüber, dass dieses Geräusch, vielfach verstärkt, in ihrem Traum wiederkehrte. Doch dann ließ der Regisseur des Films, in dem sie die tragische Heldin spielte, die Szene mit gigantischen Scheinwerfern ausleuchten und sie sah sich, mit einem Schlachtmesser in den filigranen Händen, über Mirjams laut schnarchenden Onkel gebeugt. Sie stach, wie sie es der Kriminalbeamtin versprochen hatte, mit aller Kraft zu, doch bevor die scharfe Klinge in den Leib des Sittenstrolchs eindringen konnte, erwachte das scheinbar wehrlose Opfer und entriss ihr das Mordwerkzeug. In größter Todesangst flehte sie den Mann an, ihr Leben zu schonen, doch der kannte kein Erbarmen, richtete die Klinge des Messers gegen sie und schlitzte ihren Bauch so auf, wie sie es bei Engholms Hinrichtung vorexerziert hatte…
49.
Der Morgen des 28. September graute und Mirjam kam es vor, als ob nicht nur das erste Treffen mit einer Vertreterin der Frauengruppe unerbittlich nahte, sondern auch die Entscheidung über den Weg, den sie fortan beschreiten würde. Noch hatte sie es in der Hand, ihre Befindlichkeiten zurückzustellen und ihr Amt so auszuüben, wie sie es vor einigen Jahren geschworen hatte, aber daran glaubte sie nicht mehr ernstlich.
Sie hatte den Limes, hinter dem das Land der archaischen Vergeltung lag, längst passiert gelassen und war in Bereiche vorgestoßen, aus denen es kein Entkommen gab, weder im Guten noch im Bösen. Um sieben Uhr würden zwei Kolleginnen vorbeikommen und sie verkabeln, würden erste Polizisten mit
Weitere Kostenlose Bücher