Todesengel: Roman (German Edition)
Krav-Maga-Training heute hat ihn völlig geschafft«, sagte Evelyn lächelnd.
Es gab eine Platte mit kleinen, hübsch belegten Broten, Gurken- und Tomatenscheiben und dergleichen, die sie im Wohnzimmer wegknabberten, während sie eine Flasche Rotwein nach und nach niedermachten. Ingo erzählte noch einmal von dem Drohanruf. Gemeinsam kamen sie zu dem Schluss, dass es sich wahrscheinlich tatsächlich nur um einen dummen Streich gehandelt hatte oder um den Anruf eines Wichtigtuers. Danach nahm ihr Gespräch andere, wundersame Wege, drehte sich zeitweise um Erinnerungen an den Tag des Mauerfalls, exotische Reiseziele, das Verhalten von Spatzen und die Wirksamkeit oder Nichtwirksamkeit von Homöopathie.
Ingo musste am Ende doch nicht auf der Couch übernachten. Irgendwann beugte sich Evelyn zu ihm herüber und sagte dicht vor seinem Mund: »Bestehst du eigentlich darauf, hier auf der Couch zu schlafen?«
»Ich bin da völlig flexibel«, erwiderte Ingo, ohne den Kopf zu bewegen.
»Ich glaube nämlich, ich hab gar keine Lust, die jetzt noch zu beziehen.«
»Dann lass es doch.«
»Gut«, sagte Evelyn und legte ihre Lippen auf die seinen.
Lange Zeit später stand sie auf und zog ihn mit sich ins Schlafzimmer.
Ingo erwachte, weil es heller war als gewöhnlich, sah, dass er sich auch nicht in seinem eigenen Bett befand, und alles fiel ihm wieder ein. Kein herrlicher Traum also, sondern herrliche Wirklichkeit. Evelyn lag neben ihm auf dem Bauch, warm und weich und so nackt wie er selber. Er rückte an sie heran, ließ seine Hand über ihren Rücken gleiten, erst hin und her und dann immer tiefer.
»Nicht«, murmelte sie. »Ich hab Kevin schon gehört. Wenn er auf ist, kann ich mich nicht entspannen.«
»Welcher gesunde Vierzehnjährige steht denn samstags vor elf Uhr auf?«, murmelte Ingo zurück.
»Ein Vierzehnjähriger, den ein gewisser Herr mit Begeisterung für Selbstverteidigung infiziert hat. Er will in die Stadtbücherei, ein Buch ausleihen, das der Lehrer ihnen empfohlen hat.«
»Oh.«
Eine halbe Stunde später saßen sie am Frühstückstisch. Kevin, der sich bis dahin in seinem Zimmer aufgehalten hatte, kam auf Evelyns Ruf zum Vorschein, blieb aber abrupt auf der Schwelle der Küchentür stehen, als er Ingo sah.
»Wohnt der jetzt hier?«, fragte er. Er sah aus, als wisse er noch nicht, ob er das gut oder schlecht finden solle.
»Das ist nicht der , das ist Ingo«, sagte Evelyn geduldig. »Und ja, er wohnt erst mal eine Weile hier, weil er in seiner eigenen Wohnung Drohanrufe kriegt.«
Kevin riss die Augen auf. »Wow! Da müssen Sie jetzt auch Krav Maga machen!«
Ingo zwang sich zu einem Lächeln. Schön, dass es dem Jungen so gut gefiel. Aber gegen Telefonterror war wohl auch die beste Kampftechnik machtlos.
Kevin setzte sich, schnappte sich eine Schüssel, schüttete Müsli hinein und Milch darüber und begann zu löffeln, als gelte es einen Rekord aufzustellen.
»Ich hab gehört, dein Training gestern war gut?«, fragte Ingo, um das Thema zu wechseln und weil es nicht schaden konnte, ein bisschen um die Sympathie des Jungen zu buhlen.
»Ja, war super«, sagte Kevin eifrig. »Training der Grundstufe. Wir haben Aufwärmübungen gemacht und Rollenspiele und so.«
»Rollenspiele?«
»Ja, so … ähm, Konfliktsituationen. Damit haben wir am Donnerstag schon angefangen«, erzählte er zwischen den einzelnen Bissen. »Die Anfänger müssen erst mal Angreifer spielen. Das ist cool, da kann man so richtig die Sau rauslassen –«
»He, he«, unterbrach seine Mutter, »was ist denn das für eine Sprache, junger Mann?«
»Das hat David gesagt, nicht ich«, verteidigte sich Kevin mit spitzbübischem Grinsen.
»Ich werd ihn fragen, ob das stimmt, verlass dich drauf.«
»Er hat gesagt, auf die Weise kann jemand, der bisher viel zu nett war, seine eigenen Aggressionen wieder entdecken. Die sind nämlich nicht weg, sondern nur weggesperrt. Und das ist nicht gut.« Er hatte die Schüssel leer, kratzte die Reste zusammen. »Irgendwie ist es, als wäre man Schauspieler oder so. Cool halt.«
Evelyn musterte ihn befremdet. »Zeig mal. Wie sieht das aus?«
Kevin schüttete die zweite Ladung Müsli nach. »Nee. Nicht jetzt.«
»Doch. Das will ich sehen.«
»Mann …«
»Komm schon.«
Kevin hielt inne, sammelte sich, schob die Schüssel von sich und stand auf. Die Augen auf den Boden gerichtet, spreizte er die Brust, sackte ein wenig in sich zusammen, atmete tiefer und hörbarer. Als er schließlich aufsah,
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