Todesengel: Roman (German Edition)
den ermittelnden Staatsanwalt Dr. Ortheil verweisen.«
Ingo nickte. Der Name sagte ihm etwas. Vor seinem inneren Auge tauchte das Bild eines Mannes mit langen, blonden Locken auf: Lorenz Ortheil war ein Staatsanwalt von der Sorte, die Auftritte vor Kameras genossen.
»Wenn Sie sie gefunden hätten, stünde der Suchaufruf nach einer Pistole vom Typ Makarow PM bestimmt nicht mehr auf Ihrer Website, oder?«, hakte Ingo nach.
»Wie gesagt, dazu kann ich nichts sagen«, beharrte der Mann im weißen Overall.
»Und wenn die Waffe nicht hier irgendwo ist, dann muss eine Person geschossen haben, die den Bahnhof danach verlassen hat.«
»Wie gesagt, kein Kommentar.«
»Wer hat eigentlich die Polizei alarmiert? Der Fahrer der nächsten U-Bahn, nehme ich an?«
»Wie gesagt.«
Ingo seufzte. Der Mann war wirklich ein harter Brocken. »Darf ich noch ein paar Fotos machen?«, fragte er matt.
»Bitte«, sagte der Spurensicherer. »Sie wissen, dass Sie gehalten sind, ermittelnde Beamte nicht in einer Weise abzubilden, die deren Identifizierung erlaubt?«
»Ja, ja«, brummte Ingo, nestelte seine Kamera heraus und knipste ein Dutzend Bilder in dem Bewusstsein, dass er nichts damit anfangen würde.
Dann bedankte er sich und stieg wieder hinauf ans Tageslicht. Oben fand er einen PKW vor, der quer vor dem Treppenabgang stand; zwei Männer waren dabei, ringsum Wahlplakate aufzuhängen. Die Sonne, die ihn heute früh geweckt hatte, war derweil endgültig hinter einer Wolkendecke aus unentschlossenem Grau verschwunden.
Okay. Was nun? Es in der Klinik zu versuchen konnte er sich sparen. Wenn Radoslav sagte, dass dieser Erich Sassbeck abgeschirmt wurde, dann war das so. In derlei Dingen war auf ihn Verlass.
Andererseits hatte Rado ihm die Adresse dieser Schwiegertochter gegeben, Evelyn Sassbeck, und sicher nicht ohne Hintergedanken, weil Rado nie etwas ohne Hintergedanken tat. Wenn überhaupt, dann würde Ingo über sie an Informationen herankommen. Oder sogar an den alten Mann selber.
Immer, wenn Pfarrer Peter Donsbach von Hausbesuchen in seiner Gemeinde zurückkam, hielt er in dem Moment, in dem er seine Kirche wieder betrat, unwillkürlich den Atem an.
Er sah sich um, ließ seinen Augen die Zeit, sich auf das Halbdunkel einzustellen. Eine alte Frau, die eine Opferkerze aufstellte, ein grauhaariger Mann, der in einer Bank saß, ins Gebet versunken. Zumindest auf den ersten Blick war nichts beschädigt, nichts beschmiert oder gestohlen worden.
Er umrundete die Sitzreihen, spähte in die dunklen Ecken. Kein schlafender Penner irgendwo, auch kein Junkie.
Gut. Seine innere Anspannung ließ allmählich nach, wenngleich nie ganz.
Was hatte es ihn anfangs beeindruckt, als junger Priester unmittelbar nach der Weihe gleich eine Kirche wie diese zugeteilt zu bekommen: die Sankt-Jakob-Kirche am Niendorfer Platz – groß, geschichtsträchtig, altehrwürdig, ein Baudenkmal, das in keinem Reiseführer unerwähnt blieb! Einen allzu kurzen Moment der Ahnungslosigkeit lang war er so etwas wie glücklich gewesen, hatte sich aufgehoben gefühlt im Dasein und beinahe angefangen, doch an Gott zu glauben.
Dann aber hatte er feststellen müssen, dass diese Kirchengemeinde in einer Gegend lag, für die die Bezeichnung sozialer Brennpunkt noch geschmeichelt war. In diesem Teil der Stadt war die Krise der Normalzustand. Kein Monat verging, ohne dass sein Opferstock aufgebrochen oder etwas aus der Kirche gestohlen wurde. Keine Woche, ohne dass er irgendwelche Graffiti entfernen lassen musste. Und was er im Beichtstuhl zu hören bekam, raubte ihm nicht selten den Schlaf.
Der Pfarrer, der diese Gemeinde vor ihm gehabt hatte, war tablettensüchtig geworden. Inzwischen verstand Peter Donsbach, warum.
Zwei Frauen warteten beim Beichtstuhl, beide deutlich über fünfzig, ärmlich gekleidet und einander in auffallender Weise ignorierend. Peter sah auf seine Uhr. Er war spät dran.
Das immerhin gefiel ihm an dieser Kirche: dass sie noch einen richtigen alten Beichtstuhl besaß, aus dunklem Holz, handgeschnitzt und abgegriffen von Sündern mehrerer Jahrhunderte. Er nickte den beiden Frauen knapp zu. Es befremdete ihn nach wie vor, dass sich betagte, lebenserfahrene Menschen ausgerechnet ihm anvertrauten, der so wenig von der Welt gesehen hatte und so wenig vom Leben verstand. Dann betrat er das Abteil des Priesters, verriegelte die Tür und setzte sich auf der schmalen, unbequemen Bank zurecht.
Nach den beiden Frauen mit ihren ungemein langweiligen
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