Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Todesengel: Roman (German Edition)

Todesengel: Roman (German Edition)

Titel: Todesengel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
Vom Netzwerk:
hatte das gewusst und ausgenutzt, und er war immer noch ziemlich stolz darauf, trotz Rados säuerlicher Reaktion nach seiner Rückkehr.
    Ingo hatte einen jungen Mann interviewt, den eine Gruppe Gleichaltriger im Lauf einer grundlos begonnenen Schlägerei mit zwanzig Messerstichen niedergemetzelt hatte. Ein Lungenflügel war kollabiert, eine Niere und die Leber verletzt worden – laut seiner Ärztin ein Wunder, dass er das überlebt hatte. Ingo hatte sein neues Leben porträtiert: Wie ihn schon ein paar Treppenstufen außer Puste brachten, selbst kleinste Anstrengungen erschöpften. Dass er seine Ausbildung abbrechen musste, weil er in seinem Beruf als Gebäudetechniker viel Staub hätte einatmen müssen, was seine Lunge nicht mehr mitmachte. Wie ihn die Narben an seinem Körper beeinträchtigten, auf dem Bauch, dem Rücken, am Kopf und an den Beinen. Zwanzig Stück. Und wie es ihn getroffen hatte, als die Lokalzeitung behauptete, er habe die Angreifer durch ausländerfeindliche Sprüche gereizt, obwohl er in Wirklichkeit überhaupt nichts gesagt hatte, nur an der Gruppe vorbeigegangen war.
    Ingo nahm einen Stift zur Hand und schrieb auf den freien Platz unterhalb des Artikels: Mein Name ist Ingo Praise. Ich bin Journalist und möchte Ihrem Schwiegervater eine Stimme geben. Ich stehe gerade vor Ihrer Tür, aber falls Sie nicht da sind – oder nicht da sein wollen –, können Sie mich unter folgender Nummer erreichen.
    Er fügte seine Telefonnummer hinzu, dazu das Datum und die Uhrzeit, stand auf, schob das Blatt mit der Schriftseite nach oben unter ihrer Tür durch, klingelte kurz und wartete.
    Schritte. Sie war also da. Dann wieder Stille. Er malte sich aus, dass sie das Blatt gefunden hatte und jetzt den Artikel las. Der Türspion verdunkelte sich, wurde wieder hell. Dann, nach einem sehr langen Augenblick, ging die Tür auf.
    »Sie sind ziemlich impertinent, was?«
    Die Kette war eingehängt. Sie spähte durch den Türschlitz, er sah nur ein Auge. Aber das war unglaublich. Tiefblau, intensiv, ein Blick, der Ingo elektrisierte.
    »Impertinent?«, wiederholte er und musste sich räuspern. »Ja, kann sein. Das ist wohl etwas, das man als Journalist lernt. Weil man andernfalls bald aufhört, einer zu sein.«
    »Was wollen Sie?«, fragte sie. Ihre Stimme klang ganz anders, als ihm von dem kurzen Telefonat in Erinnerung war. Dunkler. Lebendiger. Rauchig wäre auch ein passendes Wort, dachte er.
    »Was ich geschrieben habe«, sagte Ingo. »Ich würde gerne Ihrem Schwiegervater die Möglichkeit geben, seine Seite darzustellen.«
    »Was gibt es da groß darzustellen? Er ist überfallen worden. Er ist feige zusammengeschlagen worden von zwei Vollidioten, die mit ihrem Leben nichts anzufangen gewusst haben.«
    Ja. Genau. Ingo spürte, wie Wut in ihm hochstieg, diese alte, hilflose Wut, die ihn antrieb, seit er denken konnte. »Ja, Frau Sassbeck«, stieß er hervor. »Genau so ist es. Genau das ist passiert – aber die Zeitungen schreiben nur über die beiden Täter . Sie stellen nur deren Seite dar und lassen es so aussehen, als seien sie die eigentlichen Opfer. So etwas passiert andauernd, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich das aufregt. Deswegen würde ich gerne beschreiben, wie die Geschichte aus der Sicht Ihres Schwiegervaters aussieht. Ich möchte der Welt sagen, dass er das Opfer war, nicht seine beiden Angreifer.«
    All das war geradezu aus ihm herausgebrochen. Eine Stille folgte, die sich ohrenbetäubend anfühlte. Ihm kam wieder zu Bewusstsein, wo er sich befand: in dem müffelnden dunklen Flur eines fünfzig Jahre alten Hauses, vor der Wohnung einer Frau, die er nicht kannte.
    Sie drückte die Tür zu, löste die Kette, öffnete. »Kommen Sie herein.«
    Ingo starrte sie an. Er fühlte sich auf einmal unpassend gekleidet mit seiner abgeschabten Jacke und seinem fadenscheinigen T-Shirt. Wie sie da in der offenen Tür stand, sah er wenig mehr von ihr als ihren Schattenriss, aber der hatte etwas an sich, das ihn verwirrte.
    Ganz schlechte Ausgangsbasis für das, was er wollte.
    »Kommen Sie«, wiederholte sie. »Hier im Haus wohnen ziemlich neugierige Leute.«
    Er nickte, holte Luft, trat über ihre Schwelle. Der Geruch von Tomatensoße empfing ihn.
    »Ich hab nicht viel Zeit.« Sie ging ihm voraus in die Küche. »Mein Sohn kommt jeden Moment aus der Schule und muss gleich essen, damit er rechtzeitig wieder dort ist.«
    »Riecht gut«, sagte Ingo, froh, überhaupt etwas herauszubringen. Das kannte er so

Weitere Kostenlose Bücher