Todesengel: Roman (German Edition)
Sünden schlüpfte eine dritte Person in den Beichtstuhl, jemand, der sich flink und leicht bewegte. Peter hörte, wie die Person den Vorhang hinter sich zuzog, sich aber nicht hinkniete, wie es üblich war, sondern sich setzte.
Und sie begann auch nicht mit den vorgeschriebenen Worten Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen , sondern mit: »Hallo, Peter.«
Peter Donsbach zuckte zusammen. Es war eine Stimme, die er jederzeit wiedererkannt hätte, unter Tausenden.
»Du?« Mehr brachte er nicht heraus.
»Ich«, flüsterte die Stimme von jenseits des Gitters.
»Seit wann bist du … Was willst … Was machst du hier?«
»Hast du das mit dem alten Mann gelesen? In der U-Bahn? Gestern Abend?«
»Ja, wieso?« Eines der Gemeindemitglieder, die er heute Vormittag besucht hatte, war ein pensionierter Gymnasiallehrer, der mehr oder weniger den ganzen Tag im Internet verbrachte. Der hatte ihm die Nachricht gezeigt.
»Die Polizei verdächtigt ihn, die beiden Jugendlichen selber erschossen zu haben«, fuhr die Stimme fort.
»Hab ich gelesen.«
»Die Polizei irrt sich«, sagte die Stimme. »Ich war es.«
»Was? Warum das?«
»Du weißt genau, warum.«
Peter hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. »Rächt euch nicht selber, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes«, brachte er mühsam heraus, »denn es steht geschrieben: Mein ist die Rache; ich will vergelten, spricht der HERR.«
Leises, verächtliches Lachen auf der anderen Seite des holzgeschnitzten Gitters war die Antwort.
»Schön gesagt. Und wo war dein Gott, als du ihn gebraucht hättest?«, fragte die Stimme aus der Vergangenheit. » Hat er dich denn gerächt? Hat er dir geholfen? Hat dir irgendjemand geholfen?«
Peter wollte schlucken, konnte es nicht, weil seine Kehle wie zugeschnürt war. Er sah wieder Bilder, die er hatte vergessen wollen, spürte Gefühle, vor denen er geflohen war, all die Jahre.
»Nein«, flüsterte er. »Niemand.«
»Außerdem geht es nicht um Rache«, fuhr die Stimme nüchtern fort. »Da hätte ich ganz andere Leute erschießen müssen.«
»Was willst du? Die Beichte ablegen? Meine Absolution? Die kann ich dir nicht geben.«
»Ich brauche deine Absolution nicht.« Es klang, als schlucke der andere etwas hinunter. »Ich will, dass du Bescheid weißt. Wenigstens du.«
4
Das Haus Brunnerstraße 50 war ein hässlicher, grauer Bau mit sechs Stockwerken. Hier und da bröckelte der Putz, vor dem Eingang drängelten sich die Mülleimer, von denen etliche mit Schlössern gesichert waren. Viele der Gardinen, die man sah, schienen seit Jahrzehnten nicht mehr gewaschen worden zu sein.
Ihr Name stand am Klingelbrett: E. Sassbeck . Aber würde es etwas bringen, wenn er klingelte? Ingo bezweifelte es.
Während er noch dastand und überlegte, wie er vorgehen sollte, kam eine alte Frau heraus, die mit Gehstock und Einkaufstasche hantieren musste und sich mit der Tür schwertat. Ingo stürzte hinzu und hielt sie ihr auf.
»Danke, junger Mann«, sagte sie, im Türrahmen stehend. »Wollten Sie gerade rein?«
»Ehrlich gesagt, ja.«
Sie musterte ihn prüfend, dann nickte sie und gab ihm den Weg frei. »Ist gut. Sie haben nichts Böses vor. Gehen Sie nur.«
Damit ließ sie ihn stehen und humpelte davon, in Richtung des kleinen türkischen Supermarkts an der Ecke.
Ingo zögerte einen Moment, fühlte sich ertappt. Ja, er hatte darauf gehofft, dass jemand aus der Tür kommen würde. Hatte einen Plan für diesen Fall. Aber er hatte es heimlich tun wollen, unbemerkt, war nicht darauf gefasst gewesen, nach der Lauterkeit seiner Absichten befragt zu werden.
Hatte er Böses vor? Nein, sagte er sich, trat in den Hausflur und ließ die schwere Holztür hinter sich zufallen.
Der Flur war dunkel. Es roch nach Kohl, fremdländischen Gewürzen und schmutzigen Windeln. Er suchte und fand den Lichtschalter. Es machte irgendwo kolossal KLONK! , als er ihn drückte. Die Beleuchtung ging an, derart minimal, dass man kaum einen Unterschied zu vorher erkannte.
Evelyn Sassbeck wohnte im fünften Stock rechts. War sie da? Er wollte nicht lauschen. Er setzte sich auf den Treppenabsatz, öffnete seine Umhängetasche und holte das Blatt heraus, das er aus seinem Archiv gefischt hatte.
Es war die Kopie eines Artikels, den er vor gut einem Jahr ins Abendblatt geschmuggelt hatte. Rado war damals im Urlaub und nicht erreichbar gewesen, weil seine Verwandtschaft in Serbien größtenteils in den Funklöchern des dortigen Handynetzes lebte. Ingo
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