Todesengel: Roman (German Edition)
sie nach der Pistole gegriffen hatte, die ihr verstorbener Mann, ein Montagetechniker, der viel in der Welt unterwegs gewesen war, ihr einmal mitgebracht hatte, für alle Fälle. Sie habe gar nicht schießen wollen, nur drohen, aber vor lauter Nervosität habe sich eben doch ein Schuss gelöst. Der einen der Jugendlichen getötet hatte. Die zweieinhalb Jahre seither habe sie quasi vor Gericht verbracht, erst unter der Anklage des Totschlags, da die Jugendlichen angeblich schon auf der Flucht gewesen seien und die Notwehrsituation damit nicht mehr gegeben war; als sie davon freigesprochen worden war, wegen illegalen Waffenbesitzes, gefolgt von Schadensersatzforderungen der Familie des Getöteten. »Ich denk manchmal, das geht jetzt so weiter, bis ich sterbe«, schloss sie mit einem Seufzer. »Mittlerweile hat mich das alles so viel Geld gekostet, dass es besser gewesen wäre, ich hätte mich ausrauben lassen.«
Sie bekam anhaltenden Applaus, und der Lastwagenfahrer umarmte sie mit seinen mächtigen Pranken.
»Meine Damen und Herren«, wandte sich Ingo am Ende an sein Publikum, »ich will diese Sendung nicht beschließen, ohne Sie davon in Kenntnis zu setzen, dass ich seit der letzten Ausgabe mehrfach persönlich bedroht worden bin. Ich bin, wie Sie sehen, niemand, der anderen so einfach die Arme brechen könnte, eine Waffe besitze ich auch nicht. Da ich mich bei der Polizei nicht gerade beliebt gemacht habe, erfahre ich aus dieser Richtung natürlich wenig Hilfe. Wie es aussieht, kann ich im Falle eines Falles nur auf den Racheengel hoffen. In diesem Sinne: Bis morgen – hoffentlich.«
»Weißt du, was ich eigenartig finde?«, fragte Evelyn spät an diesem Abend, als sie auf der Couch lagen, ihr Kopf auf seiner Brust.
»Nein«, sagte Ingo, der ihr mit den Fingern durchs Haar fuhr und es schwierig fand, in Stimmung für Sex zu kommen.
»Dass sich der Racheengel nicht bei dir meldet. Ich meine, wo du quasi Werbung für ihn machst.«
Ingo hielt in der Bewegung inne. »Ja. Stimmt eigentlich.«
Vielleicht, dachte er, war der Racheengel doch nicht einfach irgendein Mensch mit einer Mission. Vielleicht war er irgendwie eine übernatürliche Macht.
Und vielleicht kam er nur, wenn er wirklich gebraucht wurde?
Als er am Dienstagmorgen ins Büro kam, fand Justus Ambick in seinem Eingangskorb einen braunen, auffallend dünnen und überfrankierten B4-Briefumschlag vor, der an ihn persönlich adressiert war. Die Büroadresse war auf ein von Hand ausgeschnittenes und aufgeklebtes Stück Papier gedruckt.
Stirnrunzelnd riss der Kommissar den Umschlag auf. Er enthielt nur ein einziges Blatt, auf dem in großen Buchstaben stand: Der Name, an den Sie sich im Fall Racheengel erinnern sollten, lautet Florian Holi.
24
Ambick rieb sich das rechte Ohr. Es schmerzte, wie so oft um diese Jahreszeit. Eine schlecht ausgeheilte Mittelohrentzündung in der Kindheit, hatte sein Arzt gemeint und ihm Ohrentropfen verschrieben, die nichts halfen.
»Also?«, fragte er, an Johannes Barth gewandt, der wie üblich am Aktenschrank lehnte und den in eine Plastikhülle versiegelten Brief studierte. »Was ist deine fachliche Meinung dazu?«
Jo kniff die Augen zusammen, spitzte den Mund, bot ein Bild angestrengten Nachdenkens. »Und da sind keine Fingerabdrücke drauf?«, vergewisserte er sich noch einmal.
Ambick schüttelte den Kopf. »Nur meine. Vom Öffnen.«
»Das heißt, da hat sich jemand große Mühe gegeben.«
»Scheint so.«
Der Polizeipsychologe rieb sich die Stirn, den Blick unverwandt auf den geradezu minimalistischen Text gerichtet. Ein Laserausdruck auf Allerweltspapier, hatte die Untersuchung im Labor ergeben. Unmöglich, irgendetwas daraus abzuleiten. »Der Absender will einen Hinweis auf etwas geben, das für das Verständnis desjenigen auf der Hand zu liegen scheint. Etwas, von dem er sich womöglich wundert, warum die Polizei noch nicht von selber darauf gekommen ist.«
»Mit anderen Worten, er weiß etwas. Kein Wichtigtuer.«
»Nein. Kein Wichtigtuer. Ein Wichtigtuer hätte anders geschrieben. Mehr vor allem.«
Ambick nickte. Sein Ohr pochte. Unangenehm. Machte es schwer, klar zu denken. »Okay. Danke dir.«
»Florian Holi.« Johannes Barth beugte sich nach vorn, ließ den Brief auf Ambicks Schreibtisch segeln. »Der Name sagt mir was. Ich weiß bloß nicht, was.«
»Ist etwa fünfzehn Jahre her.« Ambick zog das Schriftstück wieder zu sich heran. »Das war ein Geschäftsmann, der vier Kinder vor ein paar
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