Todesengel: Roman (German Edition)
Sorgen.«
»Verstehe ich.«
»Kommst du heute Abend?«
Er stutzte. »Natürlich. Wieso nicht?«
»Könnte ja sein, irgendein Groupie schleppt dich ab, eine langbeinige Blondine mit Haaren bis zum Hintern und mordsmäßiger Oberweite …«
Ingo musste lachen. »Du machst dir echt zu viele Sorgen.«
»Es hat harmlos angefangen«, erzählte Victoria Thimm mit tonloser Stimme. »Mir war am nächsten Morgen nicht gut, und meine Mutter meinte, ich solle lieber zu Hause bleiben. Also bin ich nicht in die Schule, die ganze Woche nicht. Am darauffolgenden Montag wollte ich wieder gehen, weil ich gehört hatte, dass die anderen auch alle wieder da waren. Aber in der Haustüre habe ich plötzlich Panik bekommen, war außerstande, einen Schritt hinaus zu tun.« Sie legte die Hände vor sich auf den Tisch, betrachtete sie. »Meine Eltern haben einen Kinderpsychologen für mich engagiert. Viel geholfen hat es nicht. Er hat mir ein Attest ausgestellt, damit ich von der Schulpflicht befreit werde, und ich habe dann das Abitur per Fernunterricht gemacht, von zu Hause aus.«
»Nach unseren Unterlagen sind Sie Übersetzerin von Beruf?«
»Ja. Das kann man per Fernunterricht lernen. Und man kann von zu Hause aus arbeiten. Das ist in dem Beruf ganz normal.«
»Und Ihre Eltern …?«
»Sind schon beide tot. Ich lebe seit über fünf Jahren allein. Ich …« Sie räusperte sich. »Es stimmt nicht ganz, was ich Ihnen gesagt habe. Auf der Beerdigung meiner Mutter war ich. Ich habe Tabletten genommen. Und es hat mich jemand begleitet, eine Freundin meiner Mutter. Ich war auch nur kurz da, am Grab. Da habe ich das Haus verlassen. Aber seither nicht mehr.«
Ambick musterte sie, grenzenlos verblüfft. »Und wie machen Sie das mit Einkäufen und so?«
»Ich lasse mir alles liefern.«
»Arztbesuche?«
»Ich habe einen Arzt gefunden, der Hausbesuche macht.« Ihre rechte Hand legte sich über die linke, als wolle sie sie schützen. »Ich leide nicht. Meine Eltern haben mir das Haus hinterlassen und ein gewisses Vermögen, ich selber verdiene auch gut … Geld ist kein Problem. Und mit genügend Geld kann man alle Probleme des Alltags lösen.«
Ambick sah sich staunend um. Es war ein großes Haus, viel zu groß für eine einzelne Person: drei Stockwerke, das Dach womöglich ausgebaut … Drei Familien hätten in diesem Haus Platz gehabt, ohne sich in die Quere zu kommen. »Ich versuche mir gerade vorzustellen, wie das ist«, bekannte er. »Nie aus dem Haus zu gehen.«
Sie lächelte melancholisch. »Die Räume oben sind schöner eingerichtet. Das hier ist nur … sagen wir, der Wareneingang.«
»Trotzdem –«
»Ich habe mich daran gewöhnt. Ich vermisse nichts.«
»Und was ist mit frischer Luft? Mit Spaziergängen im Wald?« Der Stadtwald war keine Viertelstunde zu Fuß entfernt. Eine solche Lage ungenutzt zu lassen kam Ambick geradezu frevelhaft vor.
»Ich habe einen Garten«, sagte sie.
»In den gehen Sie?«
»Auf die Terrasse.«
»Und sonst?« Ambick konnte es nicht fassen, umso weniger, je genauer er sich die Restriktionen ihres Lebens ausmalte. »Kein Kino? Theater? Oper? Jahrmarkt? Keine Stadtfeste?«
»Das wäre sowieso nichts für mich. Ich habe kein Radio, keinen Fernseher, keine Zeitung. Ich will nichts wissen von der Welt. Nichts, was ich über sie erfahre, tut mir gut.« Sie sah ihn an. »Warum sind Sie hier? Soweit ich weiß, sind die Täter damals verurteilt worden. Inzwischen müssten sie sogar wieder frei sein. Damit ist der Fall doch abgeschlossen, oder?«
»Ja, der Fall ist abgeschlossen. Ich gehe einem Hinweis nach, dass es eine Verbindung zwischen dem Fall Holi und dem Racheengel geben soll, nach dem wir zurzeit fahnden …« Er hielt inne. »Haben Sie davon überhaupt gehört?«
Sie nickte knapp. »Ich wollte, ich hätte nicht. Aber unglücklicherweise hat es sich ergeben.«
»Wir sind uns noch unschlüssig darüber, wie ernst wir den Hinweis nehmen sollen«, gestand Ambick. »Einerseits wäre Rache eine Erklärung – bloß ist die Frage, wer sich da an wem rächt, denn diejenigen, die der Racheengel bisher getötet hat, waren damals ja noch Kleinkinder. Hinzu kommt, dass der Begriff ›Racheengel‹ nicht von dem Betreffenden selber stammt, sondern eine Erfindung der Medien ist.«
Der Blick ihrer Augen schien plötzlich durch ihn hindurchzugehen. So, als habe sie überlegt, ihm etwas zu sagen, sich dann aber dagegenentschieden.
»Was wollen Sie von mir wissen«?, fragte sie mit einer Stimme, die
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