Todesengel: Roman (German Edition)
studieren sehen. Ansonsten war nichts los. Deswegen verwarf Peter seine ursprüngliche Idee, alles Weitere im Getriebe der Hauptpost zu erledigen; er würde es gleich hier tun.
Am kompliziertesten war es, die Adresse auszuschneiden und auf einen der Umschläge zu kleben, ohne das Papier zu berühren. Der Rest war dann einfach. Zehn Minuten später zahlte er, mit gesenktem Kopf, damit die Kamera über dem Tresen nicht sein Gesicht erfasste, und ging, in der Tasche einen fertig adressierten, zugeklebten Briefumschlag in einer Plastikmappe.
In der Hauptpost kaufte er ein Mäppchen mit selbstklebenden Briefmarken. Er suchte sich einen freien Tisch, ruckelte den Brief aus der Mappe, klebte mithilfe der Pinzette eine Marke darauf, ließ den Brief zurückrutschen und drückte alles durch das Plastik noch einmal fest an. Dann ging er damit zu einem der Briefkästen neben dem Hauptausgang, wartete, bis er einen Moment allein war, schob die Plastikmappe durch den Schlitz, wobei er sie am äußersten Ende festhielt, sodass nur der Brief darin in den Kasten glitt und er die Mappe selber wieder herausziehen konnte.
Danach verließ er die Post, ohne sich umzusehen. Auf dem Weg zurück zur U-Bahn warf er den Rest seiner Einkäufe in einen Mülleimer. Um den Klebestift tat es ihm leid, doch er sagte sich, dass es besser war, jedes Risiko zu vermeiden.
Als er in der U-Bahn saß und aus dem Fenster auf die schemenhaft vorbeisausenden Betonwände starrte, fühlte er nur Leere. Er hatte gehofft, sich nach dem Abschicken des Briefes befreit zu fühlen, erlöst womöglich, aber nichts dergleichen war geschehen. Im Grunde war alles noch wie immer.
Eine halbe Stunde vor der Sendung kam die Nachricht über den Ticker, das vergangene Wochenende sei das gewalttätigste gewesen, das die Stadt je erlebt habe: Ein Rentner war an einer Bushaltestelle in Peinstadt verprügelt worden, ein Kunststudent in einer U-Bahn-Station in Zünicke, ein halbseitig gelähmter Mann auf offener Straße in Unterlosing, ein Obdachloser in einem Park in der Stadtmitte … die Liste nahm gar kein Ende. Es hatte sich jeweils immer um zwei, drei jugendliche Täter gehandelt, die ohne ersichtlichen Grund losgeschlagen hatten.
Und der Racheengel hatte kein einziges Mal eingegriffen.
Natürlich musste Ingo zu Beginn der Sendung auf diese Meldung eingehen. Er tat es, indem er die Liste vorlas und anschließend kommentarlos einen Ausschnitt aus der Sendung vom Freitag zeigte, die Stelle, an der Oberstaatsanwalt Ortheil behauptet hatte, die Gewaltkriminalität sei rückläufig.
»Kein weiterer Kommentar«, sagte Ingo danach einfach.
Das gab Applaus, aber auch einen Eklat: Plötzlich standen Leute im Publikum auf, entrollten blitzschnell ein Spruchband mit der Aufschrift Keine Selbstjustiz! Keine Barbarei! und riefen: »Frieden auf unseren Straßen! Mehr Bildung! Mehr Prävention!« Sie trugen T-Shirts mit dem Logo einer der vielen politischen Gruppierungen, die an den bevorstehenden Stadtwahlen teilnahmen.
Sie wiederholten ihren Spruch zweimal, dann kamen die Saalordner und beförderten sie mit mehr oder weniger sanfter Gewalt aus dem Studio.
»Frieden auf unseren Straßen – das wünsche ich mir natürlich auch«, kommentierte Ingo die Aktion, weil ein solcher Zwischenfall in einer Livesendung nicht unkommentiert bleiben durfte. »Doch dafür ist es nötig, dass sich alle an gewisse Spielregeln halten. Eine Spielregel für dieses Studio – etwas, das Sie unterschreiben müssen, ehe Sie Zutritt erhalten – ist, dass Sie als Zuschauer die Sendung nicht mutwillig stören dürfen. So etwas wie gerade eben ist nicht die Art und Weise, wie wir diskutieren wollen. Hier im Studio greifen wir deshalb entschieden durch, wie Sie gesehen haben. Würde in der Welt draußen ebenso entschieden durchgegriffen, gäbe es unsere Sendung gar nicht. Weil sie nicht nötig wäre.«
Höflicher Applaus. Die Leute im Publikum waren immer noch unruhig. Aber die Zeit schritt voran, also machte Ingo weiter wie vorgesehen, stellte seine Gäste vor und ließ sie erzählen: Den Lastwagenfahrer, wie er seinem Angreifer das Messer entrungen und ihm dabei beide Arme gebrochen hatte und wie er dafür zu einer Woche Jugendarrest verurteilt worden war, wegen vorsätzlicher Körperverletzung. Die Rentnerin, eine zittrige alte Dame von 75 Jahren mit leiser Stimme, wie fünf mit Schreckschusspistolen bewaffnete Jugendliche in ihr Haus eingedrungen waren, offenbar auf der Suche nach Bargeld. Und wie
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