Todesengel: Roman (German Edition)
Stelle erst seit zwei Monaten hatte, war das Bild noch aktuell.
Eine schmale, feingliedrige Hand kam heraus und nahm ihm den Ausweis ab. Die Frau hielt ihn so, dass sie ihn eingehend studieren konnte, Vorder- und Rückseite, ohne ihn dafür ins Innere des Hauses zu befördern. Schließlich reichte sie ihn zurück. »Gut. Moment.«
Die Frau, die ihm die Tür öffnete, war schlank, scheu – und von umwerfender Schönheit. Sie trug ein fließendes, aprikosenfarbenes Kleid, das ihre Figur verhüllte und zugleich betonte. Dichte, schwarze Locken fielen ihr in üppiger Fülle bis auf die Schultern, und der Blick ihrer tiefblauen Augen war von irritierender Intensität. Ambick, der bis zu diesem Moment geglaubt hatte, sich damit abgefunden zu haben, dass ihm Frauen nur noch als Täterinnen oder Opfer begegneten, fühlte sich auf einmal befangen.
»Tut mir leid, Sie zu stören«, sagte er. Eine eingeübte Phrase. Gerade fand er es sehr hilfreich, auf eingeübte Phrasen zurückgreifen zu können. »Es dauert bestimmt nicht lange.«
»Das ist kein Problem«, entgegnete sie. »Ich habe Zeit.« Sie sagte es mit einem traurigen Klang in der Stimme, der in Ambick den Wunsch weckte, diesen Klang irgendwie daraus vertreiben zu können.
Sie führte ihn in einen unpersönlich wirkenden Raum direkt neben dem Eingang. Ein Tisch und zwei Stühle standen in der Mitte, ein völlig leeres Regal und ein Kühlschrank an der Wand gegenüber den Fenstern. Es sah aus, als sei der Raum eigens dafür gedacht, ungebetenen Besuch zu empfangen und möglichst schnell wieder zu vergraulen.
»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte sie kühl. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
»Vielen Dank.« Ambick wollte erst ablehnen, weil er derlei Angebote im Dienst grundsätzlich ablehnte, aber dann bat er aus einem Impuls heraus: »Wenn ich ein Glas Wasser haben könnte …«
»Gern.«
Sie ging zum Kühlschrank, entnahm ihm eine Flasche Sprudel, die dort zusammen mit allerhand Gemüse lagerte, schenkte ihnen zwei Gläser ein. Ambick beobachtete ihre Bewegungen, die einerseits an die eines scheuen Rehs denken ließen, zugleich aber von pragmatischer Entschlossenheit waren: ein scheues Reh mit einem Willen aus Stahl.
Sie stellte die Gläser auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber – reserviert, nur auf der Vorderkante sitzend, sprungbereit. Sie hatte die Tür zum Hausflur weit offen stehen lassen, so, als wolle sie sicherstellen, dass sie in jedem Moment fliehen konnte.
Ambick zog sein Notizbuch und einen Stift heraus, legte beides vor sich hin. Eine weitere eingeübte Handlung, an der er sich festhielt. »Frau Thimm«, begann er, »nach unseren Unterlagen waren Sie eines der vier Kinder, die der Geschäftsmann Florian Holi vor fünfzehn Jahren gegen Gewalttäter verteidigt hat. Ist das richtig?«
»Ja.«
»Können Sie sich noch an den Vorfall erinnern?«
Ihre Augen weiteten sich, ihr Gesicht spiegelte Irritation, ja, Verärgerung. »Natürlich. Besser, als mir lieb wäre.«
»Was heißt das?«
»Seit dem Tag, an dem das passiert ist, habe ich dieses Haus nicht mehr verlassen«, sagte sie leise. » Das heißt es.«
Nach einer Besprechung mit Rado, welche Gäste für die kommenden Sendungen infrage kamen, ging Ingo zurück in sein stilles Büro, um die Unterlagen für den Abend durchzuarbeiten. Irgendwann rief ihn Evelyn auf dem Handy an.
»Ich hab gerade Nachrichten gelesen«, erklärte sie. Im Hintergrund hörte man tiefe Männerstimmen lachen. Sie war also in der Firma. »Gestern sind schon wieder drei Leute überfallen worden, hast du das mitgekriegt?«
»Ja«, sagte Ingo. »Es wird immer schlimmer.«
»Das Gefühl hab ich auch. Deswegen ist es mir nicht recht, dass Kevin für sein Training jedes Mal allein bis nach Spannwitz rausfährt.« Sorgenvoller Seufzer. »Ich wollte dich fragen, ob du ihn am Freitag begleiten könntest.«
Er hüstelte. »Also, ich weiß nicht, ob das das richtige Signal ist, wenn du einen Jungen, der zum Selbstverteidigungskurs unterwegs ist –«
»Ingo! Bitte jetzt keine Spitzfindigkeiten! Er hat gerade erst damit angefangen. Und er muss am Hauptbahnhof umsteigen, wo sie gestern einem Sechzehnjährigen die Zähne ausgeschlagen haben.«
»Ja, okay. Klar.« Er betastete unwillkürlich seine Nase. »Mach ich. Kein Thema. Freitag ist okay.« Er musste ja nicht mit reingehen. Und tagsüber würde ihnen auf der Strecke sicher nichts passieren.
»Nur die ersten Male«, schränkte sie ein. »Ich mach mir halt
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