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Todesengel: Roman (German Edition)

Todesengel: Roman (German Edition)

Titel: Todesengel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Aber damals hatte er das nicht sehen können, war wütend gewesen, so wütend, dass er sich im Polizeisport hatte abreagieren müssen, im Boxklub. Zack, zack, zack gegen den Sandsack. Er sah es noch vor sich.
    Er konnte verstehen, wenn jemand voller Wut war, auf alles, auf jeden, auf die ganze Welt und auf Gott mit dazu. Trotzdem wäre ihm auch damals im Traum nicht eingefallen, diese Wut an einem anderen auszulassen, an jemandem, der ihm nichts getan hatte, der schwächer war, wehrlos gar. Sich das Ausmaß an Fantasielosigkeit und Impulsivität vorzustellen, das einen zu derartigen Exzessen trieb, überstieg wiederum seine Fantasie.
    Als er beim Kommissariat ankam und parkte, spähte er hinüber zu den für die Staatsanwaltschaft frei gehaltenen Plätze. Ortheils Wagen stand noch nicht da. Gut. Er hatte immer noch keine Lust, ihm Rede und Antwort zu stehen.
    In der Kantine roch es intensiv nach Sauerkraut. Das gab es zusammen mit Blutwurst und Kartoffeln, was Ambick veranlasste, die vegetarische Alternative zu wählen, was sonst nicht seine Gewohnheit war. Aber Blutwurst …
    Blutwurst? Das löste etwas bei ihm aus, eine ganz bizarre Assoziation.
    »Enno«, sagte er, als er zurück im Büro war, »haben wir Fernsehvideos von dem Fall Holi? War da nicht irgendwas mit Blut auf einer Windschutzscheibe?«
    »Bei den Akten liegt eine VHS-Kassette«, meinte Enno. »Keine Ahnung, was da drauf ist.«
    Die Fernsehsendung, aus der das Bild stammte, das Ambick wieder eingefallen war, befand sich am Anfang des Bandes. Man hatte es jedes Mal gezeigt, wenn über den Fall berichtet wurde: Blut, das von der Brücke auf eine darunter vorbeifahrende S-Bahn getropft war, auf die Windschutzscheibe. Der S-Bahn-Führer hatte sofort erkannt, worum es sich handelte.
    »Ich kenn das aus dem Zivildienst«, sagte der schnauzbärtige junge Mann auf dem Fernsehschirm. »Blut, das ist keine Flüssigkeit wie jede andere. Wie sich das verteilt, wie das aussieht, die Farbe … Das erkennt man jederzeit wieder.«
    Es war der Zugführer gewesen, ein Walter S. laut Untertitel, der die Polizei verständigt hatte. Die zu spät gekommen war, um das Leben Florian Holis noch zu retten. Von den Hunderten Autofahrern, die während des Überfalls auf der Brücke unterwegs gewesen waren, hatte kein einziger gehalten, keiner einen Notruf abgesetzt, keiner auf das Geschehen geachtet.
    »Wir schauen lieber weg«, sagte Ambick bedrückt. »Das ist das Problem. Wir tun so, als gäbe es so etwas gar nicht. Kein Wunder, dass es immer weitergeht.«
    Er fragte sich, was gewesen wäre, wäre damals ein Racheengel erschienen und hätte die drei Schläger rechtzeitig aufgehalten. Dann hätte Victoria Thimm heute vielleicht nicht eingesperrt in ihrem eigenen Haus leben müssen.
    Und er wäre ihr nie begegnet.
    Nachdem der Kommissar gegangen war, kam Victoria das Haus leerer vor als je zuvor. Und stiller. Die Uhr im Wohnzimmer tickte auf einmal so laut, dass sie gehen und nachsehen musste, ob etwas damit nicht in Ordnung war. Als der Kühlschrank in der Küche ansprang, klang sein verhaltenes Summen wie ein fortwährender Seufzer.
    Freilich, das Haus war immer so leer gewesen. Sie hatte es nur nicht bemerkt.
    Sein Geruch lag noch in der Luft. Sie meinte, seine Lederjacke zu riechen, sein Aftershave. Ungewohnte Düfte in ihrem Reich. Sie ging mehrmals los, um die benutzten Tassen wegzuräumen, und ließ sie dann doch jedes Mal stehen. Sie betrachtete das zerknautschte Sitzkissen des Sessels, auf dem er gesessen hatte, horchte in sich hinein und versuchte zu verstehen, was dieses Ziehen und Schieben in ihrem Inneren zu bedeuten hatte. Sie wusste es nicht. Sie wusste nicht einmal, ob sie glücklich war oder unglücklich.
    Natürlich hatte sie das Erzählen aufgewühlt. Aber das war es nicht alleine. Viel bedeutsamer war, wie er ihr zugehört hatte.
    Seine Einladung auf ein Eis fiel ihr wieder ein. Sie musste lächeln. Oh, sie hätte so Lust dazu gehabt! Vor einem großen Eisbecher zu sitzen, so einem, wie ihn ihre Mutter immer bestellt hatte, mit Früchten und Sahne und einem bunten Schirmchen, an einem warmen Tag spät im Frühling …
    Wie das Eiscafé Venezia heute wohl aussah? Ob es das überhaupt noch gab?
    Lange stand sie so, am Fenster, sich in Träumen verlierend von einem anderen Leben. Dann erwachte sie jäh wieder: Sie musste mit Peter sprechen, von Angesicht zu Angesicht.
    Wenn sie ihm schrieb? Nein, das würde genauso wenig bringen. Er wusste ja, wo sie wohnte.

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