Todesengel: Roman (German Edition)
nichts zu sagen, solange sich niemand beschwerte.
Kevin war eigentlich ein gut aussehender Junge, überlegte Ingo, sobald er mal für einen Moment das Geduckte, Vorsichtige verlor. Wenn er ein bisschen aus sich herausging, so wie jetzt gerade. Er hatte einen wachen Blick, war flink, intelligent – er versteckte das alles nur unter langen, schwarzen Haaren, die er sich meistens wie eine Tarnung ins Gesicht fallen ließ. Piep. Piep-piep. Piep.
Plötzlich sagte Kevin erbittert: »Ach, Kacke.«
»Verloren?«, fragte Ingo.
»Nee. Batterie leer.« Er schüttelte das Gerät, was natürlich nichts half. »Ich bräuchte schon lange ein neues. Bei dem geht der Saft dauernd aus, obwohl ich’s echt jeden Abend ans Ladegerät häng.«
Vielleicht eine Geschenkidee, überlegte Ingo. Es war nicht mehr weit bis Weihnachten. Wobei … wann hatte Kevin denn Geburtstag? Das musste er mal unauffällig in Erfahrung bringen.
»Sag mal«, begann Ingo nach einer Weile, in der Kevin nur dumpf Löcher in die Luft gestarrt hatte, »was ist eigentlich mit deinem Vater? Wenn ich das fragen darf.«
»Der ist weg«, erwiderte Kevin finster.
Kein gutes Thema, dachte Ingo und wollte es auf sich beruhen lassen, aber Kevin fuhr fort: »Der ist abgehauen, als ich noch ganz klein war. Ich kann mich kaum an ihn erinnern. Ich hab ein Foto, aber … Ja, und er hat meine Mutter bei der Scheidung übers Ohr gehauen. Keine Ahnung, wie und was. Sie sagt bloß, er hat die besseren Anwälte gehabt und da kann man nichts machen. Keine Ahnung, wo er heute ist. Interessiert mich auch nicht. Er interessiert sich ja auch nicht für mich.«
»Schöner Blödmann«, meinte Ingo. »Ich wär stolz, wenn ich einen Sohn wie dich hätte.«
Kevin grinste schief, sagte nichts, wirkte aber fast ein wenig versöhnt.
»Gut, dass Sie mich gefragt haben und nicht meine Mutter«, sagte er nach einer Weile. »Die kann sich nämlich ziemlich aufregen bei dem Thema.«
»Verstehe.«
Sie lächelten einander an, zwei Männer, die es beide nicht leicht hatten mit den Frauen.
Ingos Telefon summte. Er zog es heraus, sah auf das Display. Schon wieder seine eigene Festnetznummer, schon wieder ein weitergeleiteter Anruf.
Vermutlich noch einmal Melanie.
Passte ja.
»Ja, hallo?«, meldete er sich.
»Hallo, Herr Praise.« Es war nicht Melanie. Es war eine heisere, dünne Stimme, die klang wie nicht von dieser Welt. »Hier spricht der … Racheengel.«
34
Der Taxifahrer trug einen Turban und sprach Deutsch mit einem lustigen Akzent. Er öffnete Victoria die Tür und war überhaupt sehr freundlich, fast so, als spüre er, wie unsicher sie sich fühlte.
Immerhin: Sie hatte die Treppenstufen bis hinab auf die Straße geschafft, ohne in Schweiß gebadet zu sein. Nur ihr Herz raste. Und ihre Hand zitterte.
Die Tür fiel ins Schloss, so schwer und satt, als sei es die Tür eines Safes. Das Radio dudelte leise, man hörte fast nichts. Victoria befühlte das Leder des Rücksitzes. Glatt, kühl, geduldig. Es roch nach Rauch und fernöstlichen Düften.
Auf dem Beifahrersitz sah sie ein Buch liegen, dessen Umschlag in Gurmukhi-Schrift bedruckt war: eine in Panjabi verfasste religiöse Schrift, wie es aussah. Demnach war der Fahrer ein Sikh.
Zum ersten Mal bedauerte Victoria es, dass sie die Sprachen, die sie gelernt hatte, nicht auch sprechen konnte.
»Ich möchte zur Sankt-Jakob-Kirche«, erklärte sie, als der Mann den Wagen umrundet hatte und wieder hinter dem Steuer Platz nahm. »Am Niendorfer Platz. Wissen Sie, wo das ist?«
»Sankt-Jakob-Kirche. Ja. Alles klar«, sagte der Fahrer, legte den Gang ein und fuhr los.
Was ihm eine Kirche wohl bedeutete? Vermutlich nichts. Ein Bauwerk einer fremden Religion, über die er vielleicht so wenig wusste wie sie über den Sikhismus. Sie sah sich um, hielt nach anderen Texten Ausschau, an denen sich ihr Blick festsaugen konnte, damit sie nicht hinaussehen, sich nicht mit der Tatsache befassen musste, dass sie ihr Zuhause zurückließ. Eine Zeitung lag noch da, eine Ausgabe des Rodenthaler Anzeigers . Racheengel verhaftet! , lautete die erste Schlagzeile, gleich darunter hieß es: Schließung der Rodenthaler Porzellanmanufaktur bedroht 200 Arbeitsplätze.
Die Umgebung wahrzunehmen ließ sich nicht vermeiden. Sie näherten sich der Überallbrücke, der Blick ging ins Weite, der Wagen dagegen geriet in einen Stau, kam zum Stillstand. Ihr Herz schlug heftig, ihre Hände begannen zu kribbeln. Der Impuls, aus dem Auto zu stürzen und nach Hause
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