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Todesengel: Roman (German Edition)

Todesengel: Roman (German Edition)

Titel: Todesengel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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durchquerte, gab es nicht einmal Pläne.
    Er hatte kalte Ohren, als er vor dem Haupteingang ankam, und war außer Puste. Eine Weile geschah nichts, dann klingelte wieder sein Handy. Ein Spiel, das Ingo zu nerven begann. »Ja?«
    »Sehen Sie rechter Hand die Rampe, die abwärts führt?«, fragte die heisere Stimme.
    »Seh ich«, sagte Ingo. »Da steht ein Schild: Zutritt verboten .«
    »Gehen Sie dort hinunter und unter dem Absperrband hindurch.« Diesmal unterbrach er die Verbindung nicht.
    »Okay.« Ingo sah sich um, ob ihn jemand beobachtete. Niemand. Er setzte sich in Bewegung und tat wie geheißen.
    Hinter der Öffnung, die wohl eine Zufahrt für Lieferanten hatte werden sollen, war alles ewige Baustelle. Zementsäcke lagen herum, längst zu Stein verfestigt und unbrauchbar, Bauschutt, Holzsplitter.
    »Und jetzt geradeaus«, sagte die Stimme.
    Mit jedem Schritt, den Ingo tat, wurde es dunkler. Kahle Säulen, Durchgänge, Betonwände, aus denen ungenutzte Kabelrohre ragten, Türen, Rampen, Treppen ins Nichts. Unter seinen Schuhen knirschten Steine, raschelte altes Papier, Kartonstücke oder Fetzen von dicker Kunststofffolie. Ab und zu trat er gegen leere Bierdosen. Es roch nach Zementstaub und Pisse; vermutlich war das hier ein Unterschlupf für Penner und lichtscheues Volk.
    Er sah kaum noch etwas, als die Stimme, die ihn leitete, befahl: »Jetzt rechter Hand die Treppe hinunter. Vorsicht, sie hat kein Geländer.«
    »Danke für den Hinweis«, murmelte Ingo. Als ob irgendeine der Treppen bisher ein Geländer gehabt hätte.
    Plötzlich zitterte der Boden unter seinen Füßen, und er hörte ein enormes, metallenes Grollen in der Tiefe vorbeiziehen: eine einfahrende U-Bahn. In den leeren Räumen ringsum hallte das Geräusch, dass einem unheimlich werden konnte.
    Er stieg die Treppe hinab, vorsichtig, einen Schritt nach dem anderen. Unten angekommen, blieb er stehen, weil er die Umgebung nur noch schemenhaft wahrnahm.
    »Schalten Sie jetzt die Kamera ein«, flüsterte die Stimme aus dem Handy.
    »Moment.« Ingo steckte das Telefon in seine Jacke, setzte die Tasche ab, hievte das Gerät heraus, schaltete es ein. Zum Glück waren die Tasten hintergrundbeleuchtet. Eine Aufsatzlampe war auch dabei – bloß: Wie machte man die fest? Das hatten sie in dem Kurs damals an der Journalistenschule nicht behandelt.
    »Sie brauchen keine Lampe«, hörte er die Stimme aus seiner Jacke. »Schalten Sie einfach die Kamera ein, Bild und Ton, und filmen Sie.«
    »Wie Sie wollen«, sagte Ingo, wuchtete sich das Ding auf die rechte Schulter und drückte den Aufnahmeknopf. Eine rote LED ging an, strahlte unglaublich hell in der Finsternis ringsum.
    »Schwenken Sie jetzt langsam nach links«, befahl die Stimme. »Noch ein bisschen weiter … Stop. Bleiben Sie so.«
    Ingo blieb so, filmte die Dunkelheit, nichts geschah. Die Sekunden verstrichen, er konnte die Zeit im Display laufen sehen, und ganz allmählich wurde er das Gefühl nicht los, schlicht und einfach verarscht worden zu sein. Womöglich lauerten da im Dunkeln Kameras mit Restlichtverstärkern, die ihn ihrerseits aufnahmen, um ihn in irgendeiner Blödelsendung durch den Kakao zu ziehen.
    Er wollte die Kamera gerade wieder ausschalten, als er vor sich einen Lufthauch und ein kaum hörbares Geräusch wahrnahm.
    Im nächsten Augenblick erschien die leuchtende Gestalt des Racheengels.

35
Peters Blick mied den ihren, streifte sie allenfalls kurz und wanderte ansonsten umher, als hielte er Ausschau nach irgendetwas, das ihn aus dieser Begegnung erlösen möge.
    »Es tut mir leid«, meinte er mühsam. »Dass ich dir nicht öfter geschrieben habe, meine ich. Im Priesterseminar wurde so etwas nicht gern gesehen, weißt du?«
    Victoria ließ ihn nicht aus den Augen. »Peter«, sagte sie langsam, »du hast mir auch davor nicht geschrieben. Ich habe drei Briefe von dir bekommen – drei. In fünfzehn Jahren.«
    Seine Stimme bekam einen wehleidigen Klang. »Ja. Das ist nicht viel. Ich weiß.«
    Wilde, gefährliche Gefühle stiegen in ihr auf, Gefühle, von denen sie sich nicht fortreißen lassen durfte, das wusste sie. Erinnerungen, die wehtaten. Erinnerungen an weiche, warme, innige Küsse, an denen dieser Mund beteiligt gewesen war, diese Lippen, die jetzt so blutleer und schmal wirkten. Erinnerungen an seinen Geruch und daran, wie sich seine Haut angefühlt hatte, wie ihre Hand über seine Brust gewandert war, eine nach allen Maßstäben harmlose Erkundung eines anderen Körpers, die ihr

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