Todesengel: Roman (German Edition)
wegzufließen, als sei es etwas Flüssiges, schien sich auszubreiten, als wolle es das Kirchenschiff anfüllen und alle Dunkelheit daraus vertreiben. Ein Engel, der vom Himmel herab auf die Erde gestürzt wäre, hätte nicht anders aussehen können.
Dann machte er, was er gemacht hatte, rückgängig, und das Licht erlosch von einem Moment zum anderen. Auch die Haare schrumpften wieder ein.
»Ich dachte«, sagte Alex matt, »wenigstens ihr würdet mich verstehen.«
Victoria nickte. »Ich verstehe dich.«
»Ich nicht«, erklärte Peter entschieden. »Tut mir leid. Ich kann so etwas nur verurteilen.«
Ulrich sah von einem zum anderen. »Wovon redet ihr?«
Alex ließ den Kopf nach hinten sinken. »Florian Holi ist für uns gestorben«, rief er laut, mit einer Stimme, die plötzlich aus Glas zu sein schien. »Ein Mann hat sich für uns geopfert – für dich, Ulli, für dich, Peter, für dich, Vicky, und für mich. Aber wozu? Habt ihr euch das nie gefragt? Habt ihr euch nie gefragt, was das für einen Sinn haben soll, wenn ein Mensch sein Leben gibt, damit vier andere weiterleben können? Ich hab mich das gefragt. Ich habe nach dem Sinn hinter allem gesucht. Ich wollte es verstehen, wollte es wirklich verstehen. Ich habe gedacht, wenn einem so etwas passiert, wenn einem so etwas zustößt, dann ist man für ein besonderes Schicksal ausersehen. Dann hat man eine außergewöhnliche Aufgabe im Leben zu erfüllen. Dann hat man die Bestimmung, etwas Einzigartiges aus seinem Leben zu machen. Und das habe ich versucht. Ich habe mir gesagt, das schulde ich Florian Holi: es zu versuchen.« Er hob den Kopf wieder. »Habt ihr euch das nicht gesagt? Dass ihr ihm etwas schuldet?«
Niemand sagte etwas. Victoria war starr vor Scham, dass ihr dieser Gedanke, der so einleuchtend war, wenn man ihn hörte, all die Jahre nie gekommen war. Dabei wusste sie sogar die Antwort darauf, hätte schon immer sagen können, was sie Florian Holi schuldete: Zu leben!
Alex sank wieder zurück. »Ich hab mich wirklich ins Zeug gelegt. Kann niemand das Gegenteil behaupten. In der Schule. Gute Noten. Ein Stipendium. Amerika. Ich war gut, ohne Scheiß. Die Profs drüben sind fast ausgeflippt, haben mich gefördert, wollten mir helfen, Karriere zu machen. Aber Karriere, das war es nicht. Was ist schon eine Karriere? Dafür muss kein anderer sterben. Also hab ich abseits gesucht, nach neuen Wegen, neuen Ansätzen. Ja, Drogen. Das war ein Teil der Suche. Was ist unser Geist, unser Bewusstsein? Wie hängt es mit seiner stofflichen Grundlage zusammen, dem Gehirn, den Nervenzellen, der Materie? Und wie wird es dadurch eingeengt? Das waren so Fragen. Ja, und dann plötzlich diese … ja, diese Eingebung. Aus dem Nichts. Völlig anderes Gebiet. Nano, Polymere, Werkstoffkunde. Und es hat funktioniert, genau so, wie ich es in meiner Vision gesehen hatte. Das muss es sein, habe ich gedacht. Das muss meine Bestimmung sein.« Er hustete, trocken und schmerzhaft. »Und dann krieg ich Krebs! Gottverdammt! Warum lässt du einen Mann sterben, damit ich leben kann, und fünfzehn Jahre später krieg ich einen verdammten Krebs?«
Die Worte verhallten im weiten Raum der Kirche. Niemand sagte etwas darauf.
»Ach ja, und dann ist meine Firma abgefackelt, alle Maschinen, in denen all unser Geld gesteckt hat. Damit ich’s auch wirklich kapiere, dass das nicht der Weg ist.« Er drehte den Kopf zur Seite, sodass er in Richtung des Altars schaute. »Ich hab viel nachgedacht, während diese blöde erste Chemo in mich reingelaufen ist, die überhaupt nichts gebracht hat, außer, dass mir die Haare ausgefallen sind. Ich war ein Idiot. Hab ich wirklich geglaubt, das Schicksal … Gott … lässt einen Menschen sterben, damit ich die Modewelt revolutioniere? Ich hab nicht wegen der Medikamente gekotzt, sondern aus lauter Ekel vor meiner Blödheit. Ich hab nicht mehr gewusst, was das alles soll. Mein Leben. Alles.«
Er breitete die Arme aus, atmete so schwer, als lege sich eine unsichtbare Last auf ihn.
»Sid hat gelitten wie ein Tier. Meine Krankheit hat ihn fast noch mehr fertiggemacht als mich. Er konnt nicht mal drüber reden. Hat wieder angefangen zu trinken. Nur deshalb ist ihm das mit dem Feuer passiert. Wir waren wie Brüder. Blutsbrüder. Ich hab all die Jahre hindurch wirklich geglaubt, wir würden zusammen was aufziehen, was richtig Großes … Es war so hart, ihn zurückzulassen. Brutal. Gemein. Aber es musste sein.«
Er begann zu weinen. Tränen rannen aus den
Weitere Kostenlose Bücher