Todesengel: Roman (German Edition)
ausgetauscht gegen eine neue, die voller verlockender Dinge war, alle in Reichweite. An einem Laden stehen zu bleiben, eine Schaufensterpuppe zu betrachten, die einen modischen Anzug anhatte, wie er ihn nie im Leben würde tragen wollen, das Preisschild zu lesen und zu denken: Das könnte ich mir kaufen! , war seltsam … überraschend. Alles, was er zu sehen bekam, hatte auf einmal Aufforderungscharakter. Kauf mich! Mach mit! Gehör dazu!
Wann das Geld wohl auf seinem Konto sein würde? Mit der nächsten Abrechnung, oder? Frühestens nächsten Monat also.
Aber ein bisschen überziehen konnte er im Hinblick darauf ja schon mal. Er fand einen Geldautomaten, hob den Maximalbetrag ab. Erwog, sich doch wieder eine Kreditkarte zuzulegen.
Was er brauchte, war ein neuer Computer. Der alte hätte irgendwann demnächst ohnehin den Geist aufgegeben. Und den neuen würde City Media bezahlen, hatte Rado in einem Anfall von Großzügigkeit versprochen. Trotzdem geriet Ingo als Erstes in ein Bekleidungsgeschäft, in einen dieser hellen, weiten Tempel der Mode, in denen er praktisch nie verkehrte. Normalerweise kaufte er seine Sachen secondhand oder in Billigläden; selbst mit Journalistenrabatt wären die Preise hier für ihn unerschwinglich gewesen.
Doch so kamen sie ihm jetzt gar nicht mehr vor. Alles bezahlbar, wenn man wusste, dass zehntausend Euro unterwegs waren. Er ging zwischen den Ständern und Rondells hindurch, berührte Stoffe, Kleiderbügel, Accessoires. Was brauchte er denn? Er wusste es nicht. Ein Jackett vielleicht. Aber wann würde er das tragen? Nie. Ein Hemd. Aber welches? Die Auswahl überforderte ihn. Schließlich verließ er den Laden wieder, mit leeren Händen, gefrustet von seiner Unfähigkeit, zu wissen, was er wollte.
Er drückte sich die Nase an der Scheibe eines Autogeschäfts platt. Hier war alles, was er sah, nach wie vor unerschwinglich. Das hatte etwas Beruhigendes.
In einem Elektronikgeschäft schritt er Hunderte von riesigen und noch riesigeren Flachbildfernsehern ab, verglich die Farben, die Preise. Ob er sich so einen leisten sollte? Kinoqualität zu Hause?
Genug. Ihm schwirrte der Kopf. Unmöglich, sich jetzt noch Computer anzuschauen. Er ging wieder, steuerte die nächste U-Bahn-Station an.
Oder sollte er sich ein Taxi leisten, ausnahmsweise, zur Feier des Tages?
Nein. Er wollte sich nichts mehr leisten. All die Werbung erschlug ihn. Kauf das! Das hat man jetzt! Jeder hat das! Das braucht man heutzutage! Gehör dazu! Gönn dir was! Das fühlte sich alles auch fast an wie ein gewalttätiger Überfall.
Was er zur Feier des Tages machen konnte, war, wieder mal essen zu gehen. Nicht groß, nicht aufwendig, einfach nur in ein nettes, kleines Lokal …
Aber eigentlich lockte ihn nichts. Nicht alleine. Er wäre sich nur einsam und verloren vorgekommen.
Also fuhr er nach Hause, machte sich Spaghetti mit Tomatensoße wie schon tausend Mal zuvor, das Hauptnahrungsmittel freiberuflicher Journalisten, für jeden Geldbeutel erschwinglich. An diesem Abend hatte dieses Gericht etwas ungemein Tröstliches. Zusammen mit ausreichend viel Rotwein, verstand sich.
Er ließ den Fernseher aus. Der Schreibtisch sah seltsam leer aus ohne den Computer, aber auch den hätte er jetzt nicht eingeschaltet. Er saß nur da und sah zu, wie seine Wohnung nach und nach von der aufkommenden Dämmerung erfüllt wurde.
Es überraschte ihn nicht, dass irgendwann das Telefon klingelte, und auch nicht, dass Rado dran war. Er klang hellauf begeistert, war aber kaum zu verstehen vor all dem Lärm im Hintergrund – als schrien hundert Leute durcheinander.
»Hier ist die Hölle los!«, rief er. »Wir brechen zusammen unter Mails und Anrufen. Hast du mal ins Forum geschaut?«
»Nein«, sagte Ingo. »Wie denn, ohne Computer?«
»Die ganze Stadt tanzt auf unseren Servern. Ich hab den IT-Leuten verboten, nach Hause zu gehen, und telefoniere gerade alle Praktikanten ab, jeden, den ich für eine Nachtschicht an den Telefonen kriegen kann. Die Sensation ist perfekt!«
»Schön«, sagte Ingo. Seltsam, wie wenig ihn das berührte. Von so einem Moment hatte er immer geträumt, doch nun, als es passierte, blieb das Triumphgefühl aus. Vielleicht war es das schon, dachte er. Meine erste echte Schlagzeile – und auch meine letzte. Was hab ich denn gemacht? Nichts. Ich hab einfach nur mal Glück gehabt.
Als er wieder auflegte, war ihm, als erdrücke ihn die Stille.
Victoria Thimm hatte sich nach reiflicher Überlegung und
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