Todesengel: Roman (German Edition)
eingehender Prüfung ihres Arbeitskalenders entschlossen, dem Verlag grundsätzliches Interesse zu signalisieren und um Übersendung des Manuskripts zu bitten. Es kam postwendend per Mail. Bis zum Abend hatte sie den Roman zum ersten Mal überflogen, eine gewisse Vorstellung davon gewonnen, wovon er handelte – eine tragische Liebesgeschichte im Kalkutta der Neuzeit –, und ihren Kalender angepasst. Es sah gut aus. Machbar. Sie würde wohl zusagen.
Aber erst morgen. Sie überschlief solche Entscheidungen grundsätzlich. Außerdem war eine Unruhe in ihr, die, sobald die Konzentration auf eine anspruchsvolle Aufgabe nachließ, sofort wieder aufbrach. Eine Unruhe, die natürlich mit dieser verdammten Zeitung zu tun hatte. Mit dem Artikel darin. Das war es, was sie immer noch beschäftigte.
Sie erhob sich, wanderte unstet durch die Zimmer, rückte Dinge zurecht, zupfte an den Gardinen. Draußen war es schon dunkel. Sie teilte einen Vorhang, spähte aus dem Fenster, betrachtete die Silhouetten der Bäume, die sich vor der fahl ausgeleuchteten Straße abhoben, den wilden Wolkenhimmel, die dunkelfenstrigen Häuserfassaden gegenüber. Sie stand lange so, sah hinaus und gleichzeitig in sich hinein, versuchte zu verstehen, was sie so beunruhigte.
Es war, als sei durch die Zeitungsmeldung ein böser Same in ihre Seele gelangt, der nun keimte. Sie musste ihn ausreißen, ehe er wuchs. Und das konnte sie nur, indem sie sich der Sache stellte.
Sie kehrte zurück an den Computer, öffnete das Dateiverzeichnis und suchte nach einer Datei, die sie vor langer Zeit angelegt hatte, mithilfe eines netten jungen Mannes, der bei Computerproblemen ins Haus kam: eine Blockierliste für die Internetausgaben von Zeitungen. Gemeinsam hatten sie die großen deutschsprachigen Zeitungen erfasst, bis Victoria das Prinzip verstanden hatte und es selber zu machen imstande war. Da sie so viele Sprachen lesen konnte, gab es mehr Zeitungen, als sie würde blockieren können, aber andererseits waren ihr Nachrichtenmeldungen in fremden Sprachen weniger unangenehm, und so betrachtete sie das Problem seit etlichen Jahren als praktisch gelöst.
Nun würde sie den Schutzschild sinken lassen, vorübergehend zumindest. Sie benannte die Datei um, startete den Browser neu. Welche Zeitung war das gewesen? Das Abendblatt . Sie rief deren Webseite auf.
»Der Racheengel – es gibt ihn wirklich!« schrie die Titelseite. Victoria las den Artikel, den ein gewisser Ingo Praise verfasst hatte. Er erklärte, was der Rentner Erich S., Opfer eines brutalen Überfalls, erzählt und wessen ihn die Polizei verdächtigt hatte. Doch nun sei der Beweis aufgetaucht, dass Erich S. die Wahrheit gesagt habe: ein Video, das den gesamten Vorfall zeige.
Victoria klickte es an. Sie zuckte zusammen, als sie Schreie hörte, wütende Stiefeltritte gegen eine Gestalt am Boden sah, Gewalt, Hass, Irrsinn. Unwillkürlich wandte sie die Augen ab, tastete nach der Maus, klickte den Browser weg, weg, nur weg.
Dann krümmte sie sich zitternd auf ihrem Sessel und spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Atmen. Langsam einatmen, langsam ausatmen, Atem anhalten. Nicht ins Hecheln kommen, nicht in Panik geraten. Atmen, genau so, wie es ihr die Therapeutin damals beigebracht hatte, damals, als sie noch …
Ach, das war lange her. Sie konnte sich kaum an den Namen der Frau erinnern. Aber das Atmen half. Nach einer Weile konnte sie aufstehen, in die Küche gehen. Sie machte sich ein Brot und erwog, den PC einfach aus dem Fenster zu werfen. Fenster auf, raus, KRACH-BUMM-SPLITTER, und sie würde endlich ihre Ruhe haben.
Quatsch natürlich. Wie sollte sie arbeiten ohne Computer, ohne Internetanschluss?
Sie würde den Biokorb abbestellen. Sich die Lebensmittel aus einem Supermarkt liefern lassen, wie sie es davor gemacht hatte.
Dann fiel ihr wieder ein, wie traurig das Supermarkt-Gemüse immer gewirkt hatte, wie angematscht das Obst oft gewesen war. Nein, das war auch keine Lösung.
Auswandern, auf eine einsame Insel.
Wenn sie sich das trauen würde.
In der Küche hingen keine Vorhänge an den Fenstern, sie konnte hinaussehen auf den Garten hinter dem Haus, den sie nie benutzte. Durch die hochgewachsenen, vom Herbst ausgedünnten Bäume ringsherum schimmerten Lichter: die Fenster der Nachbarhäuser.
Sie horchte in sich hinein. Das Video abzubrechen hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Jetzt beschäftigte sich ihre Fantasie damit, wie es wohl weitergehen mochte. Sie würde es sich
Weitere Kostenlose Bücher