Todesengel: Roman (German Edition)
heraus und war sich auf einmal sicher, ach was, wusste , dass er es versauen würde.
»Okay. Also, die Studiogäste sind da. Aber wir handhaben das immer so, dass Sie denen erst vor laufender Kamera begegnen. Wegen der Spontanität. Sie verstehen?«
»Klar.« Er würde dastehen und nichts zu sagen wissen. Er würde berühmt werden als peinlichster Fernsehmoderator aller Zeiten. Videos von seinem heutigen Auftritt würden bei YouTube kursieren und millionenfach aufgerufen werden, und er würde sich einer Gesichts-OP unterziehen und anschließend nach Neuseeland auswandern.
»Dann zeig ich Ihnen jetzt das Studio. Danach geht’s in die Maske.«
Eine Maske. Genau. Nach dieser Sache hier würde er sich eine Maske aufsetzen, ehe er das Gebäude verließ, und sie bis zum Ende seines Lebens nicht wieder abnehmen.
Rundgang durch das Fernsehstudio. Damals, bei dem Jugendsender, war das ein großer Kinderspielplatz gewesen – heute kam es ihm vor wie eine riesige, unheimliche Höhle mit einem Boden voller schlangenartiger, schwarzer Kabel, über die man stolpern konnte, und Sitzreihen wie gebleckte Haifischzähne rings um die Bühne. Am Bühnenrand standen Monitore, die dem kugelförmigen Typ, dessen Name Ingo schon wieder vergessen hatte, wichtig waren. »Hier sehen Sie das gesendete Bild, klar. Außerdem läuft eine Uhr rückwärts, damit Sie immer wissen, wie viel Zeit Sie noch haben. Macht nichts, wenn Sie zwei, drei Minuten überziehen, wir schneiden das nachher eh zurecht.«
»Okay«, brachte Ingo heraus. Die Schmetterlinge in seinem Bauch beruhigte das kein bisschen.
»Heute zumindest«, ergänzte der Mann schnaubend. »Ab morgen sind Sie ja live. Das heißt, es wäre doch gut, wenn Sie heute schon mal versuchen, eine Punktlandung hinzukriegen.«
»Mal sehen, was sich machen lässt«, meinte Ingo schwach.
Dann ging es in die Maske. Braunes Zeug auf der Haut, das sein Gesicht schrecklich künstlich aussehen ließ. Nichtiges Geplapper, dem er kaum folgen konnte. Rado, der ihm grinsend alles Gute wünschte. Reiner Hohn, oder?
Evelyn würde ihn sehen. Nicht dran denken. Ingo tastete nach den Karteikarten in der Tasche seines Jacketts.
Und irgendwann, unausweichlich, war es so weit: Er stand auf einer Markierung aus gelben Klebstreifen, die Sitzreihen ringsum waren mit Gesichtern gefüllt, und jemand rief: »Noch zehn Sekunden!«
Das Intro lief, auf dem Kontrollmonitor wie auf der großen Leinwand hinter ihm. Im Wesentlichen dieselben Bilder und Ausschnitte wie in dem Teaser, der das Wochenende über gelaufen war, nur das Titellogo der Sendung hatte man etwas anders gestaltet.
Verhaltener Applaus. Der Aufnahmeleiter hob drei Finger, zwei, einen, dann zeigte er auf Ingo, und Ingos Mund begann zu sprechen.
»Guten Tag, liebe Zuschauer, ich begrüße Sie zu unserer Sendung Anwalt der Opfer .«
Sag nicht »Damen und Herren«, hatte ihm Rado eingebläut. Oder war es jemand anders gewesen? Er erinnerte sich nicht mehr.
»Mein Name ist Ingo Praise. Ich bin zwar nicht Anwalt im juristischen Sinne, aber die Seite der Opfer zu vertreten ist seit jeher Thema meiner journalistischen Arbeit gewesen.«
Er hatte diese Sätze gestern Abend ausgearbeitet und eingeübt, stundenlang, und sie heute Morgen beim Frühstück wiederholt; sie liefen ab wie von selbst. Das war auch gut so, denn in seinem Hirn herrschte ansonsten völlige Leere.
»Die Statistik sagt uns Folgendes: Alle vier Stunden wird in Deutschland jemand gewaltsam getötet. Alle achtunddreißig Minuten wird eine Frau vergewaltigt. Alle sieben Minuten wird jemand zusammengeschlagen. Die Menschen, denen so etwas widerfährt, sind Opfer, die, selbst wenn sie die Gewalttat überleben, oft jahrzehntelang unter den Folgen leiden.«
Sein Hemd klebte ihm am Leib. Jetzt erst bemerkte er, wie er schwitzte. Aber es lief. Es lief! Die Worte flossen aus seinem Mund, ohne dass er ins Stottern geriet. Die Zuschauer lachten ihn nicht schenkelklopfend aus, sondern hörten ihm zu. So etwas wie Zuversicht begann sich warm und beruhigend in ihm auszubreiten.
»Heute soll es um Opfer besonderer Art gehen: um Menschen, die sich oder andere gegen Angriffe verteidigt haben und anschließend deswegen selber vor Gericht gestellt wurden oder werden sollen. Sie haben alle von dem Fall Anfang letzter Woche gehört, dem Überfall zweier Jugendlicher auf einen Rentner in der U-Bahn-Station Dominikstraße. Was wäre geschehen, wenn der alte Mann dabei ums Leben gekommen wäre? Das wissen
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