Todesengel: Roman (German Edition)
ließ ihn nicht los, schien ihn nie wieder loslassen zu wollen – dieses Gefühl, alles falsch gemacht zu haben. Dieses Gefühl, sein Leben, wie es gedacht war, weggeworfen zu haben und nun zur Strafe in einem ganz falschen Dasein zu stecken.
Der Anrufer war Pater Anton vom Priesterseminar in Mariengnad gewesen, der ihm, nicht ohne Argwohn in der Stimme, mitgeteilt hatte, eine Frau habe am Sonntagnachmittag angerufen und nach ihm gefragt. Sie habe gebeten, ihm ihre Telefonnummer mitzuteilen und ihre Bitte, sich zu melden. Eine gewisse Victoria Thimm.
Sagt Ihnen der Name etwas?, hatte er wissen wollen.
Eine Bekannte aus meiner Schulzeit, hatte Peter erwidert, mit dem Gefühl, zu lügen, obwohl es ja stimmte. Ich nehme an, es geht um ein Klassentreffen oder dergleichen. Das war die Lüge gewesen, denn natürlich ging es darum nicht, ganz bestimmt nicht, und er wusste es.
Sie hat sehr, nun, emotional aufgewühlt geklungen, hatte Pater Anton zweifelnd eingewandt. Pater Anton kannte alle Höhen und Tiefen des Priesterdaseins, insbesondere das junger Priester: verbotene Liebschaften, ungewollte Schwangerschaften, homosexuelle Neigungen, unglücklich verliebte Stalkerinnen und vieles mehr.
Natürlich wusste Peter, warum Victoria aufgewühlt geklungen hatte. Es wunderte ihn kein bisschen. Aber ihm fiel nichts anderes ein, als zu sagen: Das hat sicher nur so geklungen .
Eine Lüge. Wie sein ganzes Leben eine Lüge war.
Er blickte auf den Notizblock hinab, wo er ihre Nummer notiert hatte. Es war immer noch dieselbe wie damals. Nichts hatte sich geändert, nichts. Fünfzehn Jahre waren vergangen, und doch schien es, als sei alles erst gestern passiert.
Es roch nach Staub, nach kaltem Stein, nach langen, bedrückenden Zeiträumen. Eine Pfarrerswohnung in einem Haus aus dem siebzehnten Jahrhundert, viel zu groß für einen einzelnen Menschen, frostig und zugig, voller uralter, düsterer Möbel: Wie war er nur hierher geraten?
Er riss das oberste Blatt des Blocks ab, knüllte es zusammen und warf es in den Papierkorb.
Den Montagvormittag in der überwältigenden Reizflut des Schirbini-Centers zu verbringen, wo alles glänzte, glitzerte und leuchtete, war eine wirksame Therapie gegen Sorgen, Ängste, überhaupt gegen Gedanken aller Art. Die Produzentin, unübersehbar begeistert, Geld des Senders ausgeben zu dürfen, schleifte Ingo durch ein halbes Dutzend Geschäfte, ehe sie mit seiner Ausstattung zufrieden war.
Anschließend ging es zu einem Friseur, der für einen simplen Herrenhaarschnitt Preise verlangte, auf die nur noch das Attribut »sündhaft« passte. Während sie warteten, dass Ingo drankam, quasselte die Produzentin ihn mit ihren konzeptuellen Überlegungen voll. Bei der Gelegenheit erfuhr er, dass nur die heutige, erste Sendung der neuen Reihe als Aufzeichnung produziert werden würde. »Das Studio ist am Abend vermietet, da wird ein Wahlwerbespot mit dem amtierenden Oberbürgermeister gedreht«, erklärte sie. »Da muss man sich danach richten, wann der Zeit hat. Und die erste Sendung einer Staffel, da kann es sein, dass wir Look und Feel der Einspieler, die Jingles oder sonst irgendwas noch mal nachbearbeiten müssen.« Sie lächelte humorlos. »Ab morgen sind wir aber wieder live, wie üblich.«
Ehe Ingo in helle Panik ausbrechen konnte, tauchte der Haarkünstler auf und schaffte es, Ingos Aufmerksamkeit auf Probleme der Haarlänge, des Schnitts und der Färbung zu bannen. Als Ingo die Ladenpassage endlich verließ, kam es ihm vor, als habe er einen Drogenrausch durchlebt.
Dafür holte ihn seine Nervosität am Nachmittag mit voller Wucht wieder ein. Er fühlte sich fremd in dem Anzug, in dem er überpünktlich im City-TV-Gebäude eintraf; erschrak, als er bei den Fahrstühlen seinem Spiegelbild begegnete, und war darauf gefasst, von Leuten, die ihn kannten, prustend ausgelacht zu werden. Doch niemand lachte, im Gegenteil, man veranstaltete einen großen Bahnhof für ihn: Eine Frau erwartete ihn beim Eingang der Studios und führte ihn in seine Garderobe, gleich darauf stand der Aufnahmeleiter auf der Matte, ein übergewichtiger Mann, der wohl aus der Not eine Tugend zu machen versuchte, indem er auffallend bunte Hosenträger verwendete. Er hatte ein Klemmbrett voller Unterlagen bei sich, das in seinen Händen wie Spielzeug aussah.
»Spute, Bernd Spute«, stellte er sich kurzatmig vor und schüttelte Ingo wabbelig die Hand. »Sie haben schon Sendungen gemacht, hab ich gehört?«
»Ja«, brachte Ingo
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