Todesengel: Roman (German Edition)
daliegenden Gängen. Irgendwo hörte er jemanden lachen.
Tja. Das war es eben: Zu Hause erwartete ihn nur sein Fernseher. Deswegen musste ein Tag schon verdammt schlecht laufen, damit er mal früher heimging.
David Mann hatte das Publikum fasziniert, das war zu spüren gewesen. Ingos zweiter Gast fiel dagegen deutlich ab. Gerd Svende war ein sachlich wirkender, mit flacher Stimme sprechender Ingenieur, dem man seinen Beruf auf den ersten Blick ansah. Er trug einen dünnen Kinnbart und zwei Kugelschreiber in der Brusttasche seines karierten Hemdes, und als Ingo ihn fragte, was er beruflich mache, sagte er, er habe technische Informatik studiert, und dann hätte er am liebsten den Rest der Sendung über Finite-Elemente-Methoden und Festigkeitsberechnungen doziert. Als Ingo ihn bremste und das Gespräch auf seinen Prozess lenkte, begannen seine Kinnmuskeln sichtbar zu arbeiten.
»Ja«, sagte er zögerlich. »Da sind allerhand Umstände unglücklich zusammengekommen.«
»Erzählen Sie doch mal, was passiert ist.«
So, wie Svende anfing, klang es, als habe er diese Geschichte schon oft erzählt. »Ich war an dem Abend mit einem Freund unterwegs. Wir hatten uns nachmittags zum Billardspielen getroffen, in einer Kneipe in dem Einkaufszentrum am Oberbucher Park. Danach wollten wir gemeinsam ins Kino gehen, ins Cineplex in Niederehrenfeld.«
»Was lief da?«
»Der neue Bond. Also – der damals neue Bond natürlich.« Sein Blick war starr. Man spürte, dass er sich bemühte, nichts Falsches zu sagen. »Quer durch den Park zu gehen war der kürzeste und einfachste Weg. Wir haben uns nichts dabei gedacht; es waren ja außer uns noch andere Leute unterwegs, und so spät war es nicht …«
Ingo nickte nur, wartete ab.
»Ja. Und dann standen die plötzlich vor uns. Fünf, ähm … junge Männer.«
»Die vorher im nahe gelegenen Jugendhaus herumgepöbelt hatten und rausgeflogen waren.«
»Das wusste ich in dem Moment nicht. Das hat sich erst später herausgestellt.«
»Was passierte weiter?«
»Der eine hat zu mir gesagt, was glotzt du so? Aber ich hatte die überhaupt nicht beachtet. Wir haben auch nichts gesagt, wir wollten nur an denen vorbei und weitergehen. Da haut der meinem Freund ins Gesicht, einfach so, mit der Faust, dass der hinfällt. Auf einmal waren sie um uns herum, alle fünf. Ich hatte Angst wie noch nie im Leben. Ich dachte, jetzt passiert es, jetzt treten die uns zusammen.« Er zögerte. »Und da hab ich eben überreagiert.«
»Was heißt das?«
»Ich hatte an dem Tag eine Geflügelschere gekauft, weil ich … nun ja, so was hat mir immer gefehlt, wenn ich mir ein gebratenes Hähnchen besorgt habe. Wir sind an einem Haushaltswarenladen vorbeigekommen, der gerade welche im Angebot hatte, also hab ich zugegriffen. Hatte sie einfach in der Jackentasche stecken. Und in der Situation …« Er schluckte. »Ich hatte eben Angst.«
Ingo nickte nur. Einer dieser Momente, in denen man besser nichts sagte.
»Verstehen Sie, mein Freund spielt Klarinette, liest Gedichte … Billard zu spielen, das ist für ihn was richtig Grobmotorisches. Er hat’s auch nur mir zuliebe gemacht.« Er holte tief Luft. »Was ich damit sagen will, ist, dass er kein Mensch ist, der sich prügeln kann, verstehen Sie? Wenn er sich den Finger brechen würde, wäre das eine Katastrophe. Das würde ihn aus der Bahn werfen, ohne Übertreibung.«
»Sie hatten das Gefühl, ihn beschützen zu müssen.«
Svende nickte, musste schlucken. »Man hat nicht viele wirklich gute Freunde im Leben. Wir sind ziemlich verschieden, aber wir konnten immer über alles reden. Wenn einer von uns Liebeskummer hatte, konnte er den anderen anrufen … Ich meine, wie viele Männer kennen Sie, mit denen Sie über so etwas reden können?«
Keinen , fuhr es Ingo durch den Kopf. »Wenige«, sagte er.
»Eben.« Svende nickte voller Anspannung, schien die Ereignisse von damals noch einmal zu durchleben. »Jedenfalls fiel mir in dem Moment die Geflügelschere ein. Ich hab gedacht, besser als nichts, hab sie blitzschnell rausgeholt und dem einen, dem Anführer, in den Hals gerammt.«
»Und ihn damit schwer verletzt.«
»Bedauerlicherweise. Ich hatte keine Ahnung, dass die Schere so scharf war. Später hat sich herausgestellt, dass ich seine Halsschlagader nur knapp verfehlt habe; er hätte verbluten können. Auch so war eine Notoperation erforderlich, um sein Leben zu retten.«
»Und Sie kamen vor Gericht.«
»Ja. Ich wurde zu drei Jahren und neun Monaten
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