Todesengel: Roman (German Edition)
Wir haben die nicht mal wahrgenommen . Wir haben uns nur unterhalten, ganz normal, bis plötzlich diese Typen vor uns gestanden haben, fünf versoffene, ordinäre Muskelprotze, die Streit gesucht haben. Es war verdammt noch mal deren Entscheidung, uns anzugreifen, also hätten sie auch die Konsequenzen tragen müssen. Wenn es gerecht zugegangen wäre.« Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare, versuchte sich zu beruhigen und schaffte es nicht. »Das ist alles so feige, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie feige. Den starken Max markieren, zu fünft gegen zwei, aber rumheulen, wenn es schiefgeht und man selber was abkriegt. Feige. Feige. Feige. Und der Richter war genauso feige. Aber dem sind Sie ausgeliefert. Gegen den haben Sie keine Chance. Alle sind sie feige in diesem Land, verdammt noch mal! Und deswegen dürfen solche Idioten machen, was sie wollen!«
Weiter kam er nicht. Die Leute sprangen von den Sitzen auf und applaudierten, dass man im Studio sein eigenes Wort nicht mehr verstand.
»Das schneide ich raus, oder?«, meinte der Cutter, ein dürrer junger Typ mit Rastalocken, anderthalb Stunden später.
»Klar«, sagte Diana Fröse, die Produzentin. »Das geht ja mal gar nicht.«
»Wartet. Nicht so hastig.« Radoslav Törlich rieb sich den Hals, wägte das Für und Wider ab, das Schlagzeilenpotenzial gegen den eventuellen Ärger.
»Ich könnte ab hier auf einen Shot auf die Zuschauer schneiden«, schlug der Cutter vor, während seine Hände so schnell über die Tastatur des Schneidecomputers fingerten, dass einem vom Zusehen schwindlig werden konnte. »Dann ab hier folgen lassen. Man würde gar nicht merken, dass etwas fehlt.«
»Nein, lass mal«, entschied der Chefredakteur. »Wir senden das so, wie es ist.«
»Das gibt Ärger«, sagte Diana Fröse.
»Das hoffe ich doch«, sagte Radoslav Törlich.
Unmittelbar vor achtzehn Uhr instruierte Radoslav Törlich die Telefonzentrale, mit welchen Anrufern er rechne und wie sie zu behandeln seien. Er nahm sein Inhouse-Mobiltelefon mit in den Fernsehraum, wo er die Ausstrahlung von Ingos Sendung zusammen mit ein paar Ressortleitern auf einem großen Plasmaschirm verfolgte.
Genau wie er es erwartet hatte, klingelte sein Telefon kurz nach dem Ausbruch des Studiogastes Gerd Svende. Keine fünf Minuten hatte es gedauert.
»Törlich«, meldete er sich, den Fernsehraum verlassend.
Am anderen Ende war kein Geringerer als Dr. Leopold Korbner, der persönliche Assistent des Bürgermeisters. Sozusagen der Bluthund der Staatsmacht.
»Wir sind darauf aufmerksam gemacht worden«, grollte die rauchige Stimme, »dass Sie gerade eine Sendung ausstrahlen, die Selbstjustiz verherrlicht und rechtmäßig gefällte Urteile deutscher Gerichte infrage stellt.«
»Alles nur Meinungsäußerungen«, erwiderte Radoslav in seinem lammfrommsten Ton. »Gemäß Grundgesetz Artikel 5.«
»Sie brauchen mich nicht über das Grundgesetz zu belehren, Herr Törlich.«
»War keineswegs meine Absicht.«
»Ich darf Sie daran erinnern, dass auch für private Fernsehsender das Gebot gilt, Ausgewogenheit zu wahren.«
Radoslav nickte. Auch diesen Vorwurf hatte er erwartet. Sie waren alle so berechenbar. »Dessen bin ich mir bewusst«, sagte er. »Diese Ausgewogenheit wird mit der morgigen Sendung hergestellt werden; der entsprechende Experte war nur nicht so schnell verfügbar. Sie wissen ja, wie kurzfristig wir gerade bei diesem Format arbeiten.«
Das Grollen im Hörer wurde etwas sanfter. »Ein Experte, sagen Sie?«
»Ein anerkannter Soziologe. Einer der besten auf diesem Gebiet. Er wird dem Stand der Wissenschaft eine Stimme geben.«
14
Nach seinem Ausbruch sank Gerd Svende in den Sessel zurück und wirkte, als nähme er nichts mehr wahr von dem, was um ihn herum geschah. Der Applaus verebbte. Ingo brach der Schweiß aus. Er musste etwas sagen, es durfte keine Stille eintreten, Stille war ein absolutes no go im Fernsehen, aber wie konnte er sie jetzt verhindern?
Aus irgendeinem Grund fiel ihm ein: »In der Bergpredigt sagt Jesus: Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die linke hin.« Er wandte sich an seinen anderen Studiogast. »Herr Mann – ist das nicht eine klare Aufforderung zum Pazifismus? Wie sehen Sie das?«
David Mann schüttelte den Kopf. »Ein weitverbreitetes Missverständnis. Nach meinem Verständnis geht es an dieser Stelle nicht um Gewaltverzicht, sondern um etwas, das wir heute Deeskalation nennen würden. Jesus fordert dazu auf, sich
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