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Todesengel: Roman (German Edition)

Todesengel: Roman (German Edition)

Titel: Todesengel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Schwachen vergreifen.‹ Das hat er gesagt. Das soll ich tun.«
    »Und dann?«
    Der Junge machte eine kraftlose Geste in Richtung seiner Beine. »Dann hat er mir ins Knie geschossen. Scheiße, Mann. Er hat mich zum Krüppel geschossen, der verdammte Hurensohn …« Er brach in Tränen aus, heulte wie ein Schlosshund.
    Dann war das Video wieder zu Ende.
    Ingo ließ die Maus los, sank nach hinten gegen die Lehne, wusste kaum, wohin mit seinen Händen. Das war die nächste Sensation, oder? Das war eine Verhöraufzeichnung der Polizei. Wer hatte ihm das geschickt?
    Sein erster Impuls war, zum Telefon zu greifen, um Rado anzurufen und ihm alles zu erzählen. Rado würde wissen, was zu tun war.
    Aber dann tat er es doch nicht. Rado? Rado hatte ihn gestern ins offene Messer laufen lassen. Rado spielte sein eigenes Spiel, hatte noch nie ein anderes gespielt, und man konnte nie wissen, welche Rolle man selber in diesem Spiel hatte.
    Nein. Er würde Rado diesmal nichts sagen. Überhaupt – das war seine Sendung! Er war es, der seinen Kopf hinhielt. Also würde er sich von jetzt an selber darum kümmern, welche Gäste eingeladen wurden und über welche Themen man diskutierte.
    Es fühlte sich gut an, das zu beschließen.
    Allerdings beantwortete es nicht die Frage, was er mit dem Video machen sollte.
    Ingo versuchte sich zu beruhigen. Nachzudenken. Wenn das ein Video der Polizei war, dann hieß das, dass es einen weiteren Fall gegeben hatte, in dem der Racheengel aufgetaucht war, dass die Polizei diesen Fall jedoch verheimlichte. Was an sich schon ein Skandal war. Die eigentliche Sensation aber war natürlich das, was der Racheengel dem Typen aufgetragen hatte. Weil das eindeutig hieß, dass der Unbekannte eine Mission verfolgte. Dass er gekommen war, um die Schwachen zu beschützen. Das war nach diesem Video nichts mehr, was man sich einreden konnte oder auch nicht, sondern eine Tatsache: Der Racheengel war angetreten, um Angst und Schrecken unter den Gewalttätern dieser Stadt zu verbreiten.
    Das durfte doch nicht geheim bleiben! Das war etwas, das man aller Welt verkünden musste!
    Und er, Ingo Praise, war berufen, genau das zu tun.
    Er musste sich bloß noch sorgfältig überlegen, wie er es am besten anstellte.
    Irgendwann am Nachmittag konnte Victoria nicht mehr. Sie saß am Boden, Schachteln mit alten Fotos um sich herum verteilt, Tagebücher aus ihrer Kindheit, Poesiealben aus der Grundschule, Faltkartons voller Erinnerungsstücke von Reisen mit ihren Eltern, Briefe, Postkarten – ihr ganzes Leben, bis heute weggesperrt in einem Schrank auf der Galerie, zwischen ausrangierten, unmodern gewordenen Kleidungsstücken, von denen sie sich noch nicht hatte trennen können, und Verpackungsmaterial, das sie aufgehoben hatte für den Fall, dass ein per Internet gekauftes Gerät defekt wurde und zurückgeschickt werden musste. Staubig waren die Schachteln gewesen, Jahre der Nichtbeachtung in Form von Staub. Die Fotos waren verblichen und viel winziger, als sie sie in Erinnerung hatte. Manche wellten sich, hatten Flecken bekommen, Farbe verloren. Aber es war alles noch da. So saß sie seit Stunden, hatte die Zeit vergessen, alle Mahlzeiten, das Versprechen, heute mit einer Redakteurin zu telefonieren, mit der sie dringend ein paar Fragen klären musste. Sie war nicht da. Sie reiste durch ihre Vergangenheit.
    Hier, die Reise nach Ungarn. Da, der Urlaub auf Gran Canaria, zusammen mit den Nachbarn, die sie, seltsamer Zufall, am Flughafen getroffen hatten. Schulfotos. Zeugnishefte. Ausgaben der Schülerzeitung.
    Und immer wieder Fotos von ihr und Peter. Es war ernst gewesen mit ihnen. Nicht in dem Sinn, dass sie was miteinander gehabt hätten, in sexueller Hinsicht, was man eben meistens damit meinte, wenn man sagte, es sei ernst. Sie waren erst vierzehn gewesen damals, beide noch zu jung, zu kindlich, zu behütet, um mehr zu wagen als lange, innige Küsse. Na und? Ernst war es ihnen trotzdem gewesen. Sie war davon ausgegangen, ihr Leben mit Peter zu verbringen, und er, das hatte er oft erkennen lassen, auch. Wenn wir mal verheiratet sind hatten sie im Gespräch oft gesagt, manchmal auch wenn wir mal Kinder haben .
    Und dann …
    Der Vorfall.
    Und hinterher war es aus gewesen. Zu Ende. Einfach so.
    Es wurde allmählich dunkel. Sie blätterte immer noch durch Alben, durchlebte immer noch ihre Kindheit, ihre Jugend, die schöne erste Hälfte davon und die einsame, angsterfüllte, verzweifelte zweite Hälfte davon. Den Tod ihrer

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