Todesengel
hab’ ich noch gar nicht gedacht. Könnte aber durchaus möglich sein. Schließlich hat er mit seiner Meinung nie hinterm Berg gehalten.«
»Der Gedanke ist mir unheimlich«, sagte Helen. »In der Tat«, erwiderte Harold. »Auf alle Fälle will ich in Zukunft immer unverzüglich über jeden Überfall informiert werden. Die Vergewaltigungen können für das Krankenhaus katastrophale Folgen haben. Vor allem mag ich keine Überraschungen, von denen ich erst während der Vorstandssitzung erfahre. Ich hab’ nämlich keine Lust, dumm dazustehen.«
»Entschuldigung«, sagte Helen. »Aber ich habe dich wirklich angerufen. Ich werde dafür sorgen, daß du in Zukunft rechtzeitig informiert wirst.«
Kapitel 3
Donnerstag, 20. Mai
»Ich muß jetzt unbedingt gehen; ich muß Nikki in der Schule abholen«, sagte Angela zu ihrem Kollegen Mark Danforth.
»Und wann willst du all diese mikroskopischen Gewebepräparate bearbeiten?« fragte Mark. »Ich weiß es nicht«, raunzte Angela ihn an. »Ich weiß nur, daß ich jetzt meine Tochter abholen muß.«
»Ist ja schon gut«, erwiderte Mark. »Schnauz mich doch nicht gleich so an. Ich hab’ ja nur gefragt, weil ich dachte, daß ich dir vielleicht helfen könnte.«
»Tut mir leid«, sagte Angela. »Ich bin zur Zeit etwas gestreßt. Bist du so nett und siehst dir diese Gewebeproben noch an? Ich werd’ dir ewig dankbar dafür sein.« Während sie sprach, nahm sie fünf Objektträger von ihrem Tisch. »Kein Problem«, antwortete Mark und legte sie zu den Proben, die er selber zu untersuchen hatte. Angela zog eine Schutzhülle über ihr Mikroskop, packte ihre Sachen zusammen und stürmte aus dem Krankenhaus. Doch kaum hatte sie den Parkplatz verlassen, da blieb sie auch schon im Feierabendverkehr stecken; sie war eben in Boston.
Als Angela die Schule endlich erreichte, hockte Nikki mutterseelenallein auf den Stufen vor der Eingangstür. Die Umgebung hier war nicht gerade schön. Die Mauern der Schule waren mit Graffiti-Schmierereien übersät, und so weit der Blick reichte, sah man nichts als Beton. Ein paar Schüler aus der sechsten und siebten Klasse versuchten gerade, Bälle in einen Korb zu werfen, der an einem hohen Drahtzaun hing; von Nikkis Schulkameraden war keiner mehr zu sehen. Direkt neben dem Schulgebäude lungerten ein paar Teenager herum, die in ihrer sackartigen Kleidung ziemlich merkwürdig aussahen. Auf der Straßenseite gegenüber stand die schäbige Pappkarton-Hütte eines Obdachlosen.
»Es tut mir leid, daß ich zu spät bin«, sagte Angela, während Nikki ins Auto stieg und sich anschnallte. »Ist nicht so schlimm«, antwortete Nikki. »Aber ich hatte schon ein bißchen Angst. Heute war nämlich ganz schön was los in der Schule. Die Polizei ist sogar dagewesen.«
»Was ist denn passiert?«
»Einer aus der sechsten Klasse hat ein Gewehr mit auf den Schulhof gebracht«, berichtete Nikki ganz ruhig. »Er hat damit herumgeballert und ist dann verhaftet worden.«
»Ist jemand verletzt worden?«
»Nein«, erwiderte Nikki und schüttelte den Kopf. »Und warum hatte der Junge ein Gewehr?« fragte Angela. »Er hat Drogen verkauft.«
»Aha«, sagte Angela und bemühte sich, genauso ruhig und gelassen zu klingen wie ihre Tochter. »Wie hast du denn davon erfahren? Weißt du das von den anderen Kindern?«
»Nein, ich hab’ es selbst beobachtet«, sagte Nikki und verkniff sich ein Gähnen.
Angela krallte sich instinktiv am Lenkrad fest. Es war Davids Idee gewesen, Nikki auf eine staatliche Schule zu schicken. Sie hatten lange gesucht, bevor sie diese Schule schließlich ausgewählt hatten. Bislang war Angela auch recht zufrieden gewesen. Doch dieser Zwischenfall entsetzte sie, und es lag vor allem daran, daß Nikki so sachlich und beiläufig darüber redete. Kaum zu glauben, daß Nikki diesen Vorfall offensichtlich als ein ganz normales Ereignis betrachtete! »Heute hatten wir wieder bei einer Vertretung Unterricht, und sie hat mich nach dem Mittagessen nicht meine Atemgymnastik machen lassen.«
»Das tut mir leid, mein Schatz. Hast du das Gefühl, daß sich in deiner Lunge viel Schleim angesammelt hat?«
»Etwas bestimmt«, antwortete Nikki. »Denn als ich draußen war, hat es beim Atmen ein bißchen gepfiffen, aber dann ist es wieder vergangen.«
»Wir holen deine Gymnastik zu Hause nach«, sagte Angela. »Und dann rufe ich nochmal in der Schule an. Ich begreife nicht, warum es damit immer wieder Probleme gibt.«
Dabei wußte Angela genau, wo
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