Todeserklärung
weiter.«
Knobel runzelte die Stirn.
»Der Grieche hat offensichtlich nicht den Auftrag, den Briefkasten zu leeren. Er hat nichts davon gesagt, wann er Sebastian das letzte Mal gesehen hat. Das Blumengießen ist ganz unabhängig davon. Vielleicht hat Sebastian ihm irgendwann mal den Auftrag erteilt, jede Woche die Blumen zu gießen. Er hat ja nicht einmal ein Wort darüber verloren, dass wir so unvermittelt aufgetaucht sind. Sicher hat er Sebastian seit Wochen nicht mehr gesehen. Aber seine Abwesenheit hat ihn eben nicht verwundert. Mit anderen Worten: Für Herrn Theodoridis ist die Abwesenheit Sebastians normal oder normal geworden.«
Knobel nickte. »Und sonst?«
»Und fünftens: Soweit ich es nach dem ersten Eindruck beurteilen kann, hat Sebastian seinen Malstil oder zumindest die Motive geändert. Sebastian ist Landschaftsmaler. Er malt weite Täler, entfernte Berge, wenige Zeichen verlorener Zivilisation inmitten der Landschaft. Wenige Bäume in der Weite, selten ein Haus in der Weite der Landschaft. Von Menschen geschaffene Dinge ordnen sich stets der Natur unter, bleiben unbedeutend. Und ganz im Gegensatz dazu bestimmen seine neuen Bilder Stadtmotive, in denen die Natur nicht einmal mehr eine Nebenrolle einnimmt.«
»Ein Stilwechsel eben«, meinte Knobel.
»Es gibt keinen ersichtlichen Grund dafür. Die Landschaftsbilder sind von imponierender Tiefe. Sie sind in sich stimmig«, und Marie versuchte mit einer Geste zu beschreiben, was ihr mit Worten nicht gelang, aber in der Sache völlig unzweifelhaft war.
»Eines der Bilder fällt ganz aus dem Rahmen«, fuhr sie fort und beschrieb das rasterförmige Muster mit dem leuchtenden roten Herz und den Buchstaben ›S. P.‹ in der rechten unteren Ecke.
»Sechstens: Viel spricht dafür, dass Sebastian alleine lebt. Er bringt seine Wäsche in eine Reinigung. Soweit ersichtlich, gibt es keine Kleidungsstücke von anderen Personen in der Wohnung.«
Damit schloss Marie ihre Auswertung und sie formulierte die sich daraus ergebenden Fragen, während Knobel vom Schwanenwall in die Bornstraße einbog:
»Wir müssen mehr über Sebastians Bilder erfahren! Bestimmt gibt es Ausstellungen und Kunsthändler, denen er bekannt ist. Und wir sollten vielleicht die Reinigung und das Geschäft ausfindig machen, in denen er seine Farben und Pinsel kauft. Vielleicht finden wir hier Ansatzpunkte.«
Knobel nickte wiederum, und als er in der Nähe von Maries Wohnung einen Parkplatz fand, stellte er den Motor in der sicheren Erwartung ab, mit Marie in ihre kleine Wohnung zu gehen, das Refugium, in dem sie ihre Welt lebten und die so wunderbar anders und pflichtenlos gegenüber seiner anderen, der alltäglichen Welt, zu sein schien.
»Nein, lass mal«, meinte Marie und löste den Anschnallgurt.
»Du musst Entscheidungen treffen, Stephan. Möchtest du die Brötchen von heute Morgen mitnehmen?«, fragte sie, als sie bereits ausgestiegen war.
Knobel verneinte und spürte, wie sehr er Lisa und Marie gleichermaßen verletzt hatte.
Er hatte sich an jenem Dienstagmorgen bei Lisa mit den Worten verabschiedet, den ganzen Tag beruflich unterwegs zu sein. In der Kanzlei hatte er sich am gestrigen Abend mit derselben Erklärung für den heutigen Tag entschuldigt und sich auf einen Tag mit Marie gefreut.
Sie hatte seine Erwartung enttäuscht, das Ritual durchbrochen und damit unmissverständlich klar gemacht, dass sie den bisherigen Weg nicht fortsetzen werde, der ihm bequem und einfach war, weil er zu keinen Entscheidungen zwang.
Marie hatte dem Dienstag seinen vorbestimmten Inhalt genommen. Sie würde keine Nische ausfüllen und hatte zugleich zum Ausdruck gebracht, dass er etwas ändern musste. Die Verweigerung des Rituals stellte erstmals auch die Frage nach der Perspektive ihrer Beziehung, beleuchtete die Zukunft, versperrte eine Liebe in den Grenzen einer liebgewordenen Gewohnheit, zerstörte damit das Refugium. Es würde keine Liebe mehr mit Marie in einer Enklave geben. Knobel war klar, dass er gegenüber Marie nicht mit einem vertröstenden Wir reden heute Abend agieren konnte, wie er es gegenüber Lisa getan und bis heute nicht eingelöst hatte.
Der unerwartet freie Dienstagnachmittag drängte ihm Zeit auf, mit der er nichts anzufangen wusste. In der Kanzlei und zu Hause erwartete man ihn nicht, und Marie wollte ihn nicht.
Knobel umrundete mit seinem Auto zwei Mal auf dem Wallring die Dortmunder Innenstadt, wie er es damals getan hatte, als er das Fahrzeug neu als
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