Todeserklärung
fuhren durch düstere Industrieviertel.
Huckarde. Knobel war erst durch das Studium in das Ruhrgebiet und durch seine Freundschaft zu Lisa nach Dortmund gekommen. Lisas Wohnung im Dortmunder Süden hatte vorbestimmt, wo sie ihren gemeinsamen Wohnsitz nahmen. Knobel kannte sich in der Innenstadt und in den südlichen Vororten gut aus. Der ärmere Norden war ihm weitgehend unbekannt. Nur selten fand Klientel aus den Bereichen nördlich der Innenstadt in die Kanzlei. Huckarde war ihm dennoch ein Begriff. Lisas Vater hatte hier einst seine erste Kanzlei gegründet. Lisa war, nachdem sich ihre Eltern getrennt hatten, bei ihrem Vater geblieben und hatte in der Kanzlei zwangsläufig große Teile ihrer Kindheit verbracht. Knobel fand etwas Versöhnliches daran, dass er nun ausgerechnet hier vielleicht eine Bleibe finden würde. Frau Meyer-Söhnkes hatte nicht begriffen, dass er Lisa niemals feindlich gegenüberstehen könnte. Sie würden sich trennen, weil sie nicht füreinander bestimmt waren. Eine Trennung, die nicht entzweit hatte! Sie hatten nicht einmal gestritten. Aber vielleicht waren diese Trennungen die schwersten. Sie hatten sich bemüht und erkannt, dass Liebe durch Mühe nicht zu gewinnen war. Das Taxi fuhr auffallend langsam um alle Kurven und Knobel dankte heimlich für die Fürsorge seines hilfsbereiten Fahrers, die ihm weitere Übelkeit ersparte.
»Hier ist Huckarde«, erklärte sein Fahrer, und Knobel sah rechts eine große Tankstelle, links in der Mitte die Gleise der Stadtbahn. Das Taxi bog bei der nächsten Gelegenheit links ab, Knobel sah beidseits einige wenige Fachwerkhäuser, dann vor ihnen eine sternförmige Straßenkreuzung, die sie halbrechts überquerten und ein kleines Spielstudio passierten. Danach ein leuchtendes REWE -Schild.
»Alles da hier«, erklärte der Fahrer, bog nach rechts ab, unterquerte zügig eine Brücke, gelangte bald zu einem Kreisverkehr, überquerte ihn und hielt kurz darauf den Wagen an.
»Wo sind wir hier?«, fragte Knobel.
»Varziner Straße«, erklärte der Fahrer, stieg aus, eilte um sein Taxi und öffnete die Beifahrertür.
»Alles da hier«, erklärte er wieder und wies nach rechts auf den Anadolugrill und links auf die Pizzeria Tre-Palme .
»Gutes Essen, kleines Geld«, fügte er hinzu und bat Knobel freundlich, ihm zu folgen. Knobel ging mit ihm in ein blassgraues Haus und ließ sich von seinem Fahrer in eine Wohnung im zweiten Stock führen.
»Bruder räumt noch aus«, erklärte er die in Auflösung befindliche Wohnungseinrichtung und betätigte einen Schalter, worauf ein an der Wand hängendes Bild in grellem Blau und Grün aufleuchtete, auf dem sich ein Wasserfall ins Tal zu ergießen schien.
»Schön!«, fand Knobel.
»Ist schön!«, bekräftigte der Fahrer und lächelte.
»Hast alles vor der Tür. Auch Eisenbahn in die Stadt.«
Knobel ging zum Wohnzimmerfenster und blickte hinaus. Weit hinten sah er schemenhaft dunkle wuchtige Gebäude und vereinzelte blaue Neonlichter.
»Was ist das?«
»Kokerei Hansa«, erklärte sein Begleiter.
»Alles still. Gasometer schon gesprengt. Kein Dreck. Kein Gestank. Willst du Wohnung haben?«
Knobel zuckte mit den Schultern. Was auch immer die Zukunft bringen würde, diese Wohnung wäre nur ein Übergang. Aber sie wäre ein erster und notwendiger Schritt.
»Ist Frau dahinter?«, fragte der Fahrer und lächelte wieder.
»Mehrere«, antwortete Knobel und nickte. »Ich überlege noch.«
Der Türke nahm seine Hand und drückte sie warm.
»Machen morgen Vertrag«, meinte er, »heute noch bisschen besoffen. Guckst morgen, ob Wohnung wirklich gut. Kannst Bett und alles nehmen.«
Mit diesen Worten ging er, und Knobel fand sich in einer fremden Wohnung, erkundete sie wie ein Hotelzimmer, betrachtete sie als Fremder und ahnte, dass sie für eine bestimmte Zeit sein Zuhause sein würde. Heute hatte er einen Schritt getan, der noch unwirklich war und mit ihm nichts zu tun zu haben schien. Er stellte sich die lärmende Charlotte Meyer-Söhnkes vor, dachte an ihre strategisch motivierten Vorhalte, erlitt im Geiste ihre labernden Berechnungen. Aber gerade darin lag ein nachvollziehbarer Grund für die Wahl dieser Wohnung, deren Preis er noch gar nicht kannte, aber mit Sicherheit erschwinglich war. Wenn Frau Meyer-Söhnkes recht hatte, blieb nach Abzug der zu bedienenden Verbindlichkeiten monatlich nicht viel übrig. Er betätigte den Schalter und brachte den leuchtenden rauschenden Wasserfall zum Stillstand. Dann griff er zu
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