Todeserklärung
Dienstwagen erhalten hatte, nur waren es diesmal nicht Runden, die er voller Stolz drehte, sondern ein zielloses Fahren, bei dem seine Gedanken zwischen Lisa und Marie hin und her irrten. Seine Gemütslage änderte sich auch nicht, als er endlich am Hiltropwall parkte, dann zu Fuß vom Westentor über den Westenhellweg bis zur Reinoldikirche lief, am Europabrunnen vorbei auf die Kleppingstraße einbog und im Louisiana einen Pinot Grigio bestellte, dann einen zweiten und noch einen dritten. Schließlich verließ er das Lokal, durchstreifte die Fußgängerzonen der Innenstadt, erinnerte sich daran, wie erstrebenswert es ihm an hektischen Tagen erschien, ohne Zeitdruck durch die Innenstadt schlendern zu können. Jetzt, wo er die Zeit hatte, konnte er nichts mit ihr anfangen. Die Zeit quälte ihn, weil sich mit der Zeit die sich stellenden Fragen nicht von selbst lösen würden. Zuletzt kehrte er ins Louisiana zurück und erstickte zwei weitere Stunden mit Zeitunglesen.
Während es draußen zu regnen und zu dunkeln begann und weiterer Wein seine innere Unruhe besiegte, ohne dass er die drängenden Fragen befriedigend zu beantworten wusste, fasste er unvermittelt einen Entschluss und rief von seinem Handy aus seine Kanzlei an. Er ließ sich mit Kollegin Meyer-Söhnkes verbinden, ohne dass er der das Gespräch entgegennehmenden Sekretärin seinen Namen nannte. Kurz darauf hatte er seine Kollegin am Telefon, und Knobel stellte sich ihr blasses sommersprossiges Gesicht und die erstaunt hochgezogenen dünnen Augenbrauen vor, während er sein Anliegen formulierte.
»Sie wollen mit mir in einer privaten Angelegenheit sprechen?«, wiederholte Frau Meyer-Söhnkes, und der Tonfall verriet eine gewisse Verstörung.
»In Ihrer Eigenschaft als Fachanwältin für Familienrecht«, ergänzte er und schlug ihr vor, dass sie nach Büroschluss ins Louisiana kommen solle. Er werde auf sie warten, sie brauche sich nicht zu beeilen.
Natürlich eilte Charlotte Meyer-Söhnkes bereits kurze Zeit später ins Louisiana .
Knobel hatte auf die Neugier seiner Kollegin gesetzt und gewonnen. Es war kaum eine halbe Stunde seit dem Telefonat vergangen, als Frau Meyer-Söhnkes die Tür des Lokals aufstieß und hektisch um sich blickte, bis Knobel mit einem Handzeichen auf sich aufmerksam machte.
»Ein Glas Wein vielleicht?«, bot er an, als er ihr aus dem Mantel geholfen hatte.
»Es ist ja fast noch Nachmittag«, entgegnete sie, kicherte unsicher und tat, als habe sie verschwörerisch ein Tabu gebrochen, als sie seinem Vorschlag folgte.
»Es ist schon mein fünfter oder sechster«, sagte er, nachdem er bestellt hatte.
»Aber Herr Knobel!«, entfuhr es ihr, und Knobel dachte kurz darüber nach, warum Frau Meyer-Söhnkes trotz ihres häufig gekünstelten Verhaltens in den von ihr betreuten Familiensachen bei den Mandanten so gut ankam und sich die Kanzlei Dr. Hübenthal & Knobel durch sie auch auf diesem Fachgebiet einen Namen erworben hatte.
»Gesetzt den Fall, dass ich mich von meiner Frau trenne: Was kommt dann auf mich zu?«
Charlotte Meyer-Söhnkes lehnte sich überrascht zurück.
»Das hätte ich jetzt wirklich nicht vermutet!«, und sie verdrehte ungläubig die Augen.
»Aber das kann jeden treffen«, half sie, und es folgte ein kurzer Abriss über ihr eigenes Leben. Die erste Ehe, die zweite Ehe, der unerfüllte Kinderwunsch, der nach der letzten Scheidung beibehaltene Doppelname, der jetzige Lebensgefährte, der auch einen Doppelnamen trage. So sei das Leben. Normal. In der Konsequenz habe sie alles richtig gemacht. Sie lächelte schüchtern, was zu ihrer turbulenten privaten Geschichte nicht passen wollte.
Knobel leerte das Glas Pinot Grigio mit einem Zug, sodass Charlotte Meyer-Söhnkes unwillkürlich inne hielt.
»Ja, ja«, sagte er, um verklausuliert zum Ausdruck zu bringen, wie egal ihm Frau Meyer-Söhnkes Leben sei. Alles richtig gemacht. Er kicherte. Welcher Mann konnte sich tatsächlich in eine Charlotte Meyer-Söhnkes verlieben?
»Es geht natürlich in erster Linie um Ansprüche Ihrer Frau, die wir abwehren müssen«, leitete sie ihre Beratung ein, und es folgte eine inquisitorische Befragung Knobels zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen, die Frau Meyer-Söhnkes, mittlerweile immer schneller sprechend, in den Schubladen Unterhalt, Zugewinn, Versorgungsausgleich und Hausrat unterbrachte. Sie bemühte in ihren sich breiartig ausweitenden Strategien alle erdenklichen Rechtsinstitute, mit denen man Lisa, wie sie formulierte,
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