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Todeserklärung

Todeserklärung

Titel: Todeserklärung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Erfmeyer
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Marie begann unversehens, sie hinter der Folie hervorzuziehen, während Herr Theodoridis die Blumen in den großen Fensternischen wässerte.
    »Wie gefallen Ihnen Sebastians Bilder?«, fragte sie den Nachbarn.
    »Weiß nicht«, antwortete Theodoridis unschlüssig. »Ist nicht so meine Sache.«
    Marie musterte die hinter der Folie stehenden Bilder und betrachtete die Motive. Zumeist mediterrane Landschaften, leicht abstrahiert, aber auf den ersten Blick gut erkennbar und scharf in den Konturen. Gelbe und rote Hügellandschaften, tiefblaue Himmel, fliehende Wolken, mal weiße, mal grell-grüne, dann tief rote Felder, blau-grüne Zypressen, hin und wieder angedeutete Dörfer in der Ferne, mal zerklüftete Berge im Hintergrund, mal eine in der Weite sich verlierende Ebene.
    »Das könnte Griechenland sein«, vermutete sie und beeilte sich, endlich den Zollstock für das Maß der Raumdiagonalen auszulegen.
    »Soweit ich weiß, war er noch nie in Griechenland«, gab der Nachbar zurück.
    »In der letzten Zeit hat er Städte gemalt«, und er wies auf die farbintensiven Bilder auf den Staffeleien.
    Marie betrachtete die Gemälde genauer. Sie war beim ersten Anblick nicht auf die Idee gekommen, dass es sich um Städte handeln könnte. Die Bilder waren deutlich abstrakter als Sebastians Landschaftsbilder, und die Gebäude wirkten wie mosaikartig aneinander gereihte Flächen. Einzig die Farben der Gebäude erinnerten an Sebastians Landschaftsbilder: Es dominierten gelb, rot, braun und alle Zwischentöne. Marie verschob den Zollstock und sagte laut das gemessene Maß vor sich hin, versprach sich, tat, als habe sie sich verrechnet und legte den Zollstock erneut aus. Aus den Augenwinkeln sah sie auf die kleinen Holzschemel, die neben den Staffeleien standen. Sebastian benutzte zum Mischen der Farben keine Paletten, sondern Partyteller. Das war sinnvoll. Die fettbeschichteten Teller schützten gegen ein Durchweichen der Farbe. Auf den Schemeln standen viele Pappteller mit getrockneten Farben, weitere auf dem mit Farbspritzern übersäten Fußboden, des weiteren Blechkanister mit Lösungsmitteln, dazwischen Tuben mit Farben, manche bereits ausgequetscht und nur ungelenk mit der schief aufgeschraubten Verschlusskappe verschlossen.
    »5,20 m«, sagte Marie laut und blickte um sich, als suche sie nach Schreibgerät, um sich das Maß zu notieren.
    »Sie werden es sich merken können!«, lächelte der Grieche.
    »Was meinen Sie, will Sebastian hier malen?«, fragte sie und trat vor das Bild, dessen Motiv von den anderen auffallend abwich. Auf dem gelb gehaltenen Untergrund befand sich ein grobmaschiges Netz schwarzer Linien, jeweils von oben nach unten und von rechts nach links führend, einander annähernd im rechten Winkel kreuzend, jedoch nicht akkurat vermessen, sondern wie flüchtig von Hand gemalt. Im unteren Teil des Bildes ein leuchtend rotes Herz, auf das eine von links unten kommende schwarze Diagonale zustieß. »Ein gefangenes Herz – oder ein Herz in Gefahr?«, riet Marie. »Meinen Sie, das Bild ist schon fertig?«
    »Es hat ja keine weißen Flecken mehr«, schmunzelte der Grieche. »Und signiert hat er es auch schon.«
    Marie musterte das Bild.
    »Unten rechts«, sagte Theodoridis. »Da steht doch S. P., also Sebastian Pakulla.«
    »S. P. Tatsächlich.« Sie blickte auf die Buchstaben. »Aber warum signiert er mit so großen Buchstaben?«
    Sie schaute auf die anderen Bilder, die, soweit sie signiert waren, unten rechts die deutlich kleineren Buchstaben ›S‹ und ›P‹ trugen.
    »Sie stellen Fragen!«, meinte der Grieche.
    »Kommen Sie, ich gieße jetzt noch im Schlafzimmer.«
    »Ja, sicher.«
    Marie klappte den Zollstock zusammen.
     
    Das Inventar des Schlafzimmers bestand aus einer breiten Matratze, die direkt auf dem Fußboden lag und einer Vielzahl von Regalen, in denen geordnet frische Wäsche lag, des Weiteren aus Haken, an denen Hemden hingen, die Sebastian Pakulla offensichtlich in einer Reinigung waschen ließ, denn sie hingen auf schlichten Drahtbügeln und waren mit einer dünnen Plastikfolie gegen Staub geschützt. Marie fand diesen Raum wesentlich uninteressanter als das Atelier, aber sie setzte ihr Schauspiel unbeirrt fort und maß die Raumdiagonale.
    »5,20 m im Atelier, 3,10 m hier«, erklärte sie und tat, als würde sie sich diese Zahlen einprägen. Sie hätte Theodoridis so gern gefragt, ob Sebastian Pakulla eine Freundin hatte, seit wann er bei seinem Nachbarn die Blumen pflegte und was er sonst

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