Todeserklärung
können, und sei es auch nur zugunsten einer sozialen Einrichtung. Die Errichtung eines Testaments durch Esther drohte beiden Brüdern wie ein Damoklesschwert. Verhindert werden konnte es nur durch demonstrierte Bruderliebe. Hätte Esther von dem Zerwürfnis zwischen den Brüdern erfahren, hätte sie testamentarisch ihr Vermögen anderen Personen vermacht. Indem du Streit und Hass zwischen den Brüdern geschürt hast, hast du beide erpressbar gemacht. Es wäre ein Leichtes für dich gewesen, dich Esther van Beek anzudienen und sie über das heftige Zerwürfnis zwischen den Brüdern in Kenntnis zu setzen. Esther, das weißt du, hätte sofort ein Testament errichtet. Und mit der Drohung, Esther zu informieren, hättest du beide Brüder gleichermaßen in der Hand gehabt. Es wäre ein Leichtes für dich gewesen, kräftig mitzuverdienen. Aber der von dir provozierte Streit zwischen Sebastian und Gregor eskalierte und endete unglücklicherweise mit dem Tod Sebastians. Ich vermute, dass nach dem tödlichen Ausgang des Streits Entsetzen geherrscht hat. Bei Gregor ebenso wie bei dir. Wegen Esthers zu befürchtender Reaktion, der Enterbung Gregors, kam eine Offenbarung des Todesfalls nicht infrage, und natürlich auch nicht wegen der zu erwartenden Scherereien mit der spanischen Justiz. Also weg mit der Leiche!
Du hast Gregor geholfen. Eigentlich warst du hier schon am ursprünglichen Ziel. Gregor war erpressbar, ohne Zweifel. Du wusstest um die Zusammenhänge und warst Zeugin aller Ereignisse. Gemeinsam, ich vermute einmal, es ging eher auf deine Idee zurück, wurde der Plan ausgeheckt, dass Gregor gegenüber Esther in die Rolle Sebastians schlüpfen sollte, bis Esther endlich starb. Esther musste der lebende Sebastian vorgespielt werden, damit sie bloß kein Testament macht. Es wurde geschauspielert. Aber nun ging es darum, auch rechtlich eine Rahmengeschichte zu entwickeln, die den Erbplänen nicht im Wege stand. Ihr habt euch im Erbrecht kundig gemacht und ich vermute, dass du auch an dieser Stelle fleißiger warst als Gregor. Immerhin hat er Grundkenntnisse erworben. Erinnere dich an Gregors Bemerkung bei unserem Besuch in deiner Wohnung: Sie hat es mir beigebracht , sagte Gregor. Und das Studium des Erbrechts vermittelte dir eine elegante Lösungsmöglichkeit, die wirklich unglaublich ist: Ich weiß nicht genau, im wievielten Monat du schwanger bist, Kirsten. Aber ich wette, das Kind wurde bald nach Sebastians und lange vor Esthers Tod gezeugt, nämlich sobald wie möglich, als du erkannt hattest, dass dir die Vorschriften des Erbrechts eine legale Möglichkeit boten, an die Erbschaft zu kommen, ohne Gregor erpressen zu müssen. Die Idee war vor der Zeugung des Kindes in deinem Gehirn geboren worden, aber zunächst lief nach außen alles so ab, wie du es mit Gregor besprochen hattest.
Sebastians Tod hätte, nachdem Esther gestorben war, für die Erbschaft insoweit keine Rolle mehr gespielt, aber du und Gregor konnten Sebastians Tod auch nicht nachträglich gegenüber den Behörden offenbaren. Wie sollte man erklären, einen vor Monaten in einem Streit tödlich verletzten Bruder heimlich vergraben zu haben? – Selbst wenn der Tod Sebastians nur ein Unfall war: Diese Umstände deuteten, und immer vor dem Hintergrund des schlagkräftigen Motivs, nämlich Esthers Erbschaft, die durch Sebastians Tod nun Gregor alleine zufiel, unzweifelhaft auf einen Mord hin. Darum also der Ausweg über die rechtliche Krücke ›Todeserklärungsverfahren‹, über das Gregor und auch du natürlich ebenfalls Bescheid wussten. Geschickt wurde die aufwändige Beauftragung unserer Kanzlei eingefädelt. Geschickt auch die Suchartikel in den Zeitungen, dann die Vermisstenanzeige. Alle Welt sollte wissen: da sucht Gregor Pakulla seinen verschwundenen Bruder. Und dann, als Sebastian natürlich nicht gefunden wurde: das unweigerliche ›Todeserklärungsverfahren‹. Das war das ursprüngliche Ziel: rechtlich sollte auf den Weg eingeschwenkt werden, der bei der für Gregor Pakulla verzwickten Ausgangslage überhaupt noch zur Erbschaft führen konnte.
Das ›Todeserklärungsverfahren‹ ist zeitaufwändig, wäre aber rechtlich sicher gewesen. Sebastians Spur hätte sich verloren. Man wäre bei der Fluggesellschaft auf seinen Hinflug nach Mallorca gestoßen, dem kein Rückflug folgte. Aber man hätte auf Mallorca keinen Ansatzpunkt gefunden. Man wäre auf den Hin-und Rückflug von Gregor Pakulla aufmerksam geworden. Das hätte Fragen aufgeworfen,
Weitere Kostenlose Bücher