Todeserklärung
links und wieder zurück, er blieb kurz vor dem hohen Bücherregal stehen, stützte, an das Regal gelehnt, den Kopf in die Hände, dachte nach, und lief irgendwann aus dem Büro hinaus, schräg gegenüber in das Büro des Seniors, Zimmer 101.
Dr. Hübenthal hatte zu dieser Zeit die Kanzlei bereits verlassen. Knobel trat an die Bücherwand des Seniorbüros, in dem die Bücher nach Größe geordnet waren, suchte nach einem erbrechtlichen Lehrbuch und fand es schließlich im zweiten Regal rechts unten. Knobel blätterte im Stichwortverzeichnis, las die maßgeblichen Fundstellen und dann auszugsweise einzelne zitierte Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu den ihn interessierenden Fragen. Er saß in Dr. Hübenthals Chefsessel, was er noch nie getan hatte, füllte die gesamte Schreibtischplatte mit den aufgeschlagenen Büchern, prüfte und verglich, las einige Paragrafen aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch und dazu nochmals die einschlägige Kommentierung.
Dann endlich hatte er ein Ergebnis gefunden, das ganz unglaublich erschien, aber Sinn machte und eine teuflische Logik offenbarte. Er fand nicht die Ruhe, die Bücher an ihren Platz zu stellen. Puterrot lief er in sein Büro zurück, warf laut die Bürotür hinter sich zu und baute sich in drohender Gebärde vor Kirsten Praetorius auf.
»Mir ist alles klar geworden, Kirsten!«, schrie er. »Alles macht Sinn. Bis ins Detail. Bis ins kleinste Detail!«, bekräftigte er und rang nach Luft, um seine Stimme zu beruhigen.
»Stephan, was ist los?«
Kirsten Praetorius’ Augen hatten sich erschrocken geweitet. »Ich suche einen Anwalt für Gregor, deshalb bin ich hier.«
»Ich sage dir jetzt, wie ich die Dinge sehe, Kirsten«, erwiderte er merklich ruhiger, »und eines versichere ich dir vorab: Ich werde Gregor weiterhin vertreten! Ich werde ihn aus ganzem Herzen vertreten, denn ich erkenne jetzt, dass er wirklich mein Mandant ist und ich ihn wirklich vertreten möchte! Ich werde ihn nicht strafrechtlich vertreten, das überlasse ich einem spanischen Kollegen, aber ich werde dir versichern, Kirsten, dass ich den besten Strafverteidiger Spaniens beauftragen werde! Ich selber werde Gregor erbrechtlich beraten, und ich werde versuchen, was möglich ist, um Gregor die Erbschaft zu erhalten. Sei versichert: Ich werde dir das Leben schwer machen, Kirsten! Du bist noch nicht am Ziel!«
Kirsten sah ihn ungläubig an.
»Du musst nicht unwissend tun!«, zischte Knobel. »Jetzt liegen die Dinge auf der Hand, und ich schwöre dir, ich werde jeden Haken suchen, der dich zu Fall bringt!«
Er sammelte sich, um die Falllösung zu präsentieren, die sie nach Knobels fester Überzeugung kennen musste.
»Die Tötung Sebastians hat in der Erbsache Esther van Beek eine Bedeutung. Aber ich habe bisher nicht ihre wirkliche Funktion verstanden. Es wird sich, da bin ich mir sicher, gar nicht um eine vorsätzliche Tötung gehandelt haben. Marie und ich haben uns immer gefragt, warum denn Sebastian vor Esthers Tod umgebracht werden soll. Das wäre aus Gregors Sicht rechtlich unklug gewesen, und deshalb habe ich auch nie daran geglaubt, dass er es getan hat. Eine Tötung Sebastians nach Esthers Tod, das hätte für Gregor Sinn gemacht, aber nicht eine Tötung Sebastians vor Esthers Tod. Jetzt, wo es offensichtlich doch so ist, dass Gregor Sebastian vor Esthers Tod getötet hat, kann es sich nur um ein tragisches Versehen gehandelt haben, denn Gregor hatte allen Grund, die Folgen zu vermeiden, die Sebastians Tod mit sich brachte: Er musste Sebastian gegenüber Esther am Leben erhalten, um das drohende Testament zu verhindern, mit dem Esther einen anderen begünstigt hätte, wenn sie von Sebastians Tod und dessen Umständen erfahren hätte. Und sie hätte die wahren Umstände erfahren. Sie hätte nachforschen lassen und die Wahrheit über Sebastians Tod erfahren. Sie wusste ja, dass die Brüder gemeinsam nach Mallorca wollten, um einen Versöhnungsurlaub zu machen. Und ausgerechnet da kommt Sebastian um. Nein, das durfte aus Gregors Sicht nicht passieren. Da wäre das Erbe dahingewesen. Der Tod Sebastians wird also ein tragischer Unfall gewesen sein, aber ein Zufall, der dir, Kirsten, in die Finger spielen sollte, und es wird noch zu prüfen sein, inwieweit du selbst möglicherweise den Tod von Sebastian, oder vielleicht alternativ auch den von Gregor, gewollt hast.«
»Du fantasierst!«, rief sie erschrocken.
»Dein Plan ist ebenso simpel wie teuflisch«, fuhr Knobel unbeirrt fort, »und ich
Weitere Kostenlose Bücher