Todeserklärung
erbunwürdig. Aber das ist egal. Sebastian hatte zu diesem Zeitpunkt ohnehin nichts zu vererben. Kurz darauf wird jedenfalls dein Kind gezeugt. Wochen oder Monate später stirbt Esther. Alleinerbe ist der einzige noch lebende Neffe Gregor, der aber erbunwürdig ist, weil er seine Tante Esther durch Täuschung dazu veranlasst hat, kein Testament zu errichten. Zum Zeitpunkt des Todes von Esther war aber bereits das Kind gezeugt, also der nach gesetzlicher Fiktion bereits lebende Erbe, der hinsichtlich der Erbschaft von Gregor anfechtungsberechtigt ist. Und Gregor wird nun das Erbe genommen durch dessen eigenes Kind! Die ganze Erbschaft von Esther van Beek geht auf dein Kind über! Fantastisch, Kirsten!«
»Ich wollte nur ein Kind, Stephan!«, wiederholte Kirsten Praetorius. »Nichts weiter! Und ich erkenne nichts von dem, was du gesagt hast, als richtig an. Und ich werde es auch nie tun. Ich bin enttäuscht von dir, Stephan!«
Kirsten Praetorius stand auf.
»Verzichte einfach!«, schrie Knobel. »Die Erbunwürdigkeit steht ja nicht von Amts wegen fest. Keine Klage heißt keine Erbunwürdigkeit Gregors! – Als ich mit Marie bei euch war, dachte ich, dass du ihn liebst!?«
»Warum sollte ich nicht? Bloß weil er einen Kopf kleiner ist als ich? Liebe ist so eine Sache. Aber wäre es wirklich in Esthers Sinne, dass ein Neffe erbt, der den anderen, den Lieblingsneffen, umgebracht hat? Meinst du nicht auch, dass Esther in Kenntnis dieser Umstände dann nicht eher ihren ungeborenen Großneffen bedacht hätte?«
»Du verrätst dich mit diesem Satz mehr, als du denkst, Kirsten!«, erwiderte Knobel. »Ich verstehe dich ja, und du weißt: Ich verstehe dich jetzt ganz und gar!«
Kirsten Praetorius warf ihren Mantel über und dann Knobel einen zornigen Blick zu:
»Du bist ein völlig verrückter Mensch! Gregor wird bedauern, dich je kennengelernt zu haben. Ich bedaure es jetzt schon. Du bist uns keine Hilfe. Du bist krank!«
»Und wie ist dein weiterer Plan?«, wollte Knobel wissen. »Wirst du irgendwann dein Kind ermorden, damit das Geld dann auf dich übergeht? Bis jetzt ist ja nur das Kind Erbe. Das Geld ist noch nicht bei dir angekommen, Kirsten! Was meinst du? Plötzlicher Kindstod? Kann man das nicht arrangieren?«
»Du bist krank, Stephan!«
»Du hast noch ungelöste Probleme, Kirsten!«, rief Knobel erregt. »Man wird eine Nachlasspflegschaft anordnen. Was machst du dann? Dieses Problem musst du lösen, Kirsten! Bis jetzt hast du es nur wunderbar geschafft, aus einem ›Todeserklärungsverfahren‹, das auf die Fiktion des Todes ausgerichtet ist, herauszuführen und mit der Fiktion einer gesetzlichen Vorschrift, die das ungeborene Leben als geboren fingiert, einen gewaltigen wirtschaftlichen Vorteil zu ziehen. Von der Todesfiktion zur Lebendfiktion! Aber du musst doch weitermachen! Deine Geschichte endet noch nicht!«
»Du bist so unendlich krank!«, schrie sie und rannte aus seinem Büro.
»Ich werde als Zeuge aussagen im Strafprozess gegen Gregor!«, rief er ihr hinterher.
28
»Du bist krank«, wiederholte Marie Kirsten Praetorius’ Worte. »Das ist ein Kompliment, Stephan. Du hast die Lösung gefunden. Wer die Lösung findet, ist krank!«
»Ich bin ein Mensch ohne Struktur«, sagte er, und als Marie nicht reagierte, wiederholte er die Worte.
»Es gibt natürlich einige Entscheidungen zu treffen«, hielt sie dagegen, »und Entscheidungen sind nicht deine Stärke. Stehst du zu mir?«
»Ohne Wenn und Aber ja!«, sagte er fest, und er merkte, dass die Worte zu gewaltig und zu schnell ausgesprochen waren. Er lag auf Maries abgenutzter Ledercouch im Wohnzimmer gegenüber den gefüllten Bücherregalen. Marie lag neben ihm, er streichelte ihr Haar. Ein Montagabend in der Brunnenstraße.
»Liebst du mich?«, fragte sie.
»Ja!«
Die Antwort war schlicht und ehrlich, erschien plötzlich gar nicht gewaltig, eher wirkte sie wie selbstverständlich. Die Liebe war leicht geworden.
»Du wirst dich um deine Tochter kümmern«, sagte Marie.
»Ohne Einschaltung von Frau Meyer-Söhnkes. Du wirst mit Lisa und deinem Schwiegervater reden.«
Knobel bejahte wiederum, und auch diese Antwort fiel ihm leicht und kam von ganzem Herzen.
»Und dann ist noch zu klären, ob du weiterhin in der Varziner Straße in Dortmund-Huckarde wohnen willst, und ob du dich ständig mit dem bulligen Löffke reiben willst. Wie beantwortest du diese Fragen?«
Er beantwortete sie mit ›nein‹. Auch diese Antworten waren ehrlich und fielen
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