Todeserklärung
leicht.
Er küsste Maries Haar, atmete die nächtliche Stille in ihrer Wohnung, fühlte Maries Herzschlag an seiner Brust und fragte nach, als Marie leise einige Worte vor sich hingesagt hatte.
»Du hast Struktur!«, wiederholte sie.
29
Drei Wochen später saßen Marie und Stephan im Zimmer von Frau Klingbeil im Wohnstift Augustinum .
»Sie sind jetzt eine reiche Frau!«, stellte Knobel fest.
Frau Klingbeil lächelte. »Ja, das Testament hat mich überrascht. Ich wusste wirklich nicht, dass es eines gab.«
Marie sah Stephan fragend an.
»Esther van Beek hat einige Wochen vor ihrem Tod ein notarielles Testament errichtet«, erklärte Knobel.
»Der Notar war hier im Wohnstift Augustinum , hat sich ihren letzten Willen erklären lassen, das Testament dann so vorbereitet und in einem zweiten Termin das Testament hier Esther vorgelesen, es sich von ihr genehmigen und eigenhändig unterschreiben lassen.«
»Konnte denn Esther van Beek als Blinde wirksam unterschreiben?«, fragte Marie.
»Der Sinn des Erfordernisses der Unterschrift des Erblassers ist die Sicherstellung der Identität von Erklärendem und Erblasser«, erklärte Knobel. »Deshalb kann nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch ein schreibfähiger Blinder unterschreiben. So war es bei Esther van Beek.«
»Aber komisch ist doch, dass das Testament erst jetzt aufgetaucht ist«, sagte Marie.
Knobel nickte. »Nach den Vorschriften des Beurkundungsgesetzes soll der Notar die Niederschrift in einen Umschlag nehmen, diesen mit dem Prägesiegel verschließen, auf dem Umschlag das Testament näher bezeichnen, diese Aufschrift unterschreiben und dann veranlassen, dass das Testament unverzüglich in besondere amtliche Verwahrung, also regelmäßig zum Amtsgericht, gebracht wird. Letzteres ist hier versehentlich unterblieben.«
»Esther hat das Testament bestimmt nur gemacht, weil ich ihr nach ihrem leichten Schlaganfall davon erzählt habe, wie widerlich sich Sebastian benommen hat«, sinnierte Frau Klingbeil.
»In Wirklichkeit war es ja auch Gregor«, warf Knobel ein.
Frau Klingbeil sah irritiert auf.
»Nein, nein«, widersprach Marie. »Es war Sebastian. Sebastian ist wie Gregor. Die Namen sind austauschbar.«
Frau Klingbeil verstand nicht recht, aber sie stellte auch keine Nachfragen.
»In der Konsequenz hat Esther geärgert, dass keiner der beiden Neffen sie zuletzt im Altersheim besucht hat«, fuhr sie fort. »Und als beide davon berichteten, wie sehr sie sich einander angenähert hatten, wurde das selbst Esther zu viel. Es war zu aufgetragen, es war gelogen. Das spürte Esther genau. Und deshalb hat sie offensichtlich dieses Testament gemacht, von dem wir erst jetzt erfahren haben.«
»Sie müssen mit dem Geld etwas machen«, erklärte Knobel, »zumindest müssen Sie es weitervererben …«
»Sonst erbt der Staat, ich weiß«, vollendete Frau Klingbeil. »Ich habe keine gesetzlichen Erben.«
»§ 1936 BGB«, nickte Knobel.
»Es gibt viele, die ich bedenken werde. Alle möglichen sozialen Einrichtungen, und natürlich auch meine Freundin hier.«
Sie lächelte und sah zu Marie.
»Nein, nicht ich«, widersprach Marie.
»Doch!«, beharrte Frau Klingbeil. »Es ist meine einzige wirkliche Aufgabe, die mir verbleibt: Ich muss Esther van Beeks reichliches Vermögen verteilen. Und ein im Vergleich zum Gesamtvermögen kleines Stück geht an Sie, meine verehrte kleine Freundin! Sie werden mich nicht davon abbringen! Sie werden Ihr Studium beenden und einen schönen Beruf ergreifen, der Ihnen Spaß macht. Sie sollen Ihr Studium nicht mit Gläserspülen im La Dolce Vita finanzieren müssen. Sie sollen frei sein!«
Knobel merkte bei diesen Worten, dass Frau Klingbeil Marie nicht nur von ihrer Tätigkeit in der Gastwirtschaft La Dolce Vita unabhängig machen wollte, sondern auch von ihm. Einen Augenblick lang dachte er, dass Marie ihn in diesem Moment überhole. Heimlich bereute er, sich bei dem ersten Gespräch mit Frau Klingbeil nicht eingebracht zu haben und schämte sich zugleich, solche Gedanken zu hegen. Natürlich stand es Frau Klingbeil frei, mit dem unerwarteten Vermögen zu machen, was sie wollte.
»Es soll Ihnen gut gehen!«, sagte Frau Klingbeil weich zu Marie. »Sie lieben doch Goethe und seine Verse, die Literatur im Ganzen, Sie sind ein überaus bezaubernder Mensch, ein richtiger Schatz.«
»Das ist sie!«, bekräftigte Knobel.
30
Gregor Pakulla wurde von einem Gericht auf Mallorca wegen Körperverletzung mit Todesfolge
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